Familientherapie ohne Familie
Trotz intensiver Diagnostik ergab sich kein organischer Befund. Auch entsprechende Medikamente waren erfolglos.
Als ich den Patienten in einer dritten Klinik sah, konnte er mir schnell berichten, dass die Beschwerden wesentlich schlimmer würden, je mehr er sich um ihre Kontrolle bemühen würde. Er gerate dann in immer stärkere Anspannung, habe Angst, die Umgebung werde auf ihn aufmerksam. Schließlich bekomme er bei den Versuchen, das Wackeln und Zittern zu verhindern, noch Kopfschmerzen. Wenn er alleine sei, bekomme er die Beschwerden nicht.
Bei der Intervention nutzte ich die Zusammenhänge: Ich erklärte dem Patienten den Teufelskreis von Anspannung und Muskelverspannung, wie die Agonisten und Antagonisten am Kopf ziehen, welche Schwerarbeit die Muskulatur leiste und dass es kein Wunder sei, wenn er schließlich davon Kopfschmerzen bekomme. Da alle Bemühungen, das Verhalten zu kontrollieren, bisher die Sache noch schlimmer gemacht hatten, empfahl ich ihm, einmal den umgekehrten Versuch zu unternehmen. Beim nächsten Abendessen solle er während des Essens die Aufmerksamkeit aller anwesenden Mitpatienten auf sich ziehen. Statt das aber durch Sprechen zu erreichen, müsse er es durch immer stärker werdendes Zittern tun. Er solle das so lange fortsetzen, bis ihn schließlich jemand frage, was mit ihm los sei. Er solle die Zeit stoppen, die er dazu benötige, und sich auf keinen Fall schon am Ziel glauben, wenn die ersten Blicke auf ihn gerichtet seien. Das Ganze solle er als sportliche Herausforderung
ansehen. Hier in der Klinik könne man sich kaum lächerlich machen, schließlich seien genügend Patienten hier, die eine vergleichbare Symptomatik hätten.
Dann demonstrierte ich dem Patienten, wie er erst langsam zittern könne und in welcher Weise sich dann die Symptomatik steigern ließe. (Wie die Erbsen von der Gabel rollen, der Tee über den Rand schwappt...) Heinrich O., der anfänglich blass geworden war, lächelte angesichts meiner Demonstration. Er werde sein Bestes geben. Dann schaute er mich überrascht an: »Ich weiß ja gar nicht, ob die normalerweise mein Zittern bemerken. Sie meinen, ich soll also schauen, ob die überhaupt reagieren und, wenn ja, ab wann?«
Ich stimmte ihm zu.
Am nächsten Tag erzählte er von seinen Erfahrungen: Er habe sich tatsächlich sehr angestrengt und versucht, mit seinen übertrieben zitternden Händen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zu seiner Überraschung sei das sehr schwierig gewesen. Er habe sich immer weiter steigern müssen, bis er schließlich bewusst den Tee über den Tassenrand auf die Tischdecke geschüttet habe. Dann endlich habe ihn einer der Tischnachbarn erstaunt gefragt, ob er denn gezittert habe und ob er ihm helfen solle. Die befürchtete Blamage aber war ausgeblieben.
Wir wendeten uns dann dem zweiten Problem des Patienten zu. Mehrfach am Tag zog es den Kopf nach einer Seite. Heinrich schaute dann nach hinten und oben, das Gesicht grimassierend vom Gesprächspartner weggewendet. Die neurologische Untersuchung hätte keinen Befund erbracht (kein Torticollis spasticus organischer Genese). Er könnte es einfach nicht kontrollieren. Ich erklärte dem Patienten wieder das Problem der Anspannung in diesem Muskelgebiet und demonstrierte an einer Zeichnung die Kräfte, die auf den Kopf einwirken. Danach verschrieb ich, er solle bewusst den Kopf noch weiter und stärker in die Richtung bewegen, in die es den Kopf normalerweise alleine ziehe. Das solle er jedes Mal wie eine gymnastische Übung durchführen, sobald er spüre, dass die Zwangsbewegung sich ankündige.
Das Ergebnis war für den Patienten überraschend: Schon am nächsten Tag berichtete er, dass er auf die Weise das Symptom beherrschen könne. Zwar komme der Bewegungsimpuls dann manchmal wieder, durch nochmalige kräftige Bewegung des Kopfes verschwinde der Zwang aber sofort.
Eine Variante der offenen Verschreibung erwähnen Paul Watzlawick, John Weakland und Richard Fisch als »Bellac-Technik« 28 , nach dem Bühnenstück Der Apollo von Bellac von Jean Giraudoux. Sie schildern den Fall einer selbstbewussten Abteilungsleiterin, die in einen zunehmenden Konflikt mit einem Vorgesetzten kam, der genauso bestimmend wie sie selbst war. Er machte sie in Gegenwart Dritter klein und sie reagierte mit ähnlichen Mitteln, um ihm das zurückzuzahlen. Die Situation eskalierte dementsprechend und berufliche Konsequenzen waren zu befürchten. Der Therapeut empfahl daher der Patientin, dem Chef mit
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