Fangjagd
Sie betraten eine große Wohnhalle, die fast das ganze Erdgeschoß einzunehmen schien. Im linken rückwärtigen Drittel des Raums führte eine Holztreppe zu einer um die Wohnhalle laufenden Galerie.
Der aus massiven Dielen bestehende Fußboden war gebohnert und zum größten Teil mit abgetretenen Teppichen bedeckt. Die Möbel waren alt und wuchtig, schwere Klubsessel, Tische, Vitrinen und Bücherschränke. Nancy fiel auf, daß alles mit einer feinen Staubschicht bedeckt war.
Das einzig Moderne war eine Barküche mit gefliester Arbeitsfläche. Als Nancy mit dem Zeigefinger darüberfuhr, war ihre Fingerspitze staubig. Sie öffnete eine Tür des Küchenschrankes und stellte fest, daß er zahlreiche Konservenbüchsen und zwei Gläser Pulverkaffee enthielt.
„Ich zeige Ihnen gleich, worum es geht“, sagte Seidler auf Deutsch zu Newman. „Warten Sie bitte hier!“
Er verschwand durch eine Tür in der Rückwand des großen Raums, wobei er einen seiner beiden Koffer mitnahm.
Newman drehte sich nach Nancy um und zuckte mit den Schultern. Sie erkundigte sich, was Seidler gesagt hatte, und er übersetzte es ihr. Hier im Haus war es bei geschlossener Haustür nicht mehr so kalt, aber der Hubschrauber war weiterhin zu hören, als kreise er in einiger Entfernung. Im nächsten Augenblick öffnete Nancy den Mund und stieß einen lauten Schrei aus. Newman drehte sich zu der Tür um, durch die Seidler hinausgegangen war.
Dort war eine schreckenerregende Gestalt aufgetaucht.
Newman verstand Nancys Aufschrei, während er den vor ihm Stehenden anstarrte: ein gesichtsloses Ungeheuer mit großen, glasigen Tintenfischaugen. Seidler trug eine Gasmaske, eine fremdartige Maske mit kyrillischer Beschriftung oberhalb der starren Glasaugen:
CCCP-
UdSSR.
28
„Ich habe ein halbes Dutzend Lieferungen solcher Gasmasken über die Grenze gebracht… aus sowjetischen Lagerbeständen in der Tschechoslowakei über die österreichische Grenze geschmuggelt… Ich spreche fließend Tschechisch, was natürlich nützlich gewesen ist…“
Die Worte strömten aus Seidler hervor – wie aus einem Mann, der über zuviel Dinge allzu lange hatte Stillschweigen bewahren müssen. Nach seiner makabren Vorführung hatte er die Gasmaske abgenommen, und Nancy kochte jetzt Kaffee.
Sie hatte ein Glas Pulverkaffee geöffnet und Wasser in einem Topf auf der Keramikkochplatte aufgesetzt. Sie goß drei Becher Kaffee auf, rührte um und forderte die beiden Männer mit einer Handbewegung auf, sich zu bedienen.
„In dieser Gruft brauchen wir etwas Wärme von innen“, meinte sie dabei. „Ich wünschte, dieser verdammte Hubschrauber würde endlich wegfliegen!“
Newman hörte draußen ein Auto, das aus Richtung Le Pont zu kommen schien. Wegen der geschlossenen Fensterläden konnte er nicht hinaussehen. Er lief zur Haustür und öffnete sie einen Spalt – gerade noch rechtzeitig, um die Schlußleuchten eines roten Wagens in Richtung Le Brassus verschwinden zu sehen.
Der Fahrer des roten Autos raste trotz der vereisten Straße wie ein Verrückter. Newman ließ die Tür wieder ins Schloß fallen.
„Wer ist Ihr Auftraggeber gewesen, Seidler?“
„Sie machen eine große Story daraus, nicht wahr? Sie müssen sie in der internationalen Presse bloßstellen, sonst bin ich erledigt… Ich liefere Ihnen Material für den größten Coup Ihres Lebens…“
Seidler war völlig durcheinander, hatte seine bisherige Selbstbeherrschung verloren und wirkte beinahe hysterisch, während er auf Deutsch weiterredete. Er trug einen teuren Kamelhaarmantel, einen Seidenschal und handgearbeitete Schuhe. Newman schlürfte einen Schluck des siedendheißen Kaffees, bevor er antwortete.
„Beantworten Sie erst einmal meine Fragen! Was ich daraus mache, entscheidet sich später. Und fassen Sie sich kurz – wir haben wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit“, fügte er auf Englisch hinzu, damit Nancy verstand, wovon die Rede war.
„Das Auto, das eben vorbeigerast ist, macht dir wohl Sorgen?“
fragte sie.
„Heute macht mir alles Sorgen. Ja, auch dieser Wagen. Ebenso wie der Audi, der Saab und der Volvo, die uns auf der Fahrt hierher mehrmals überholt haben. Und der Militärhubschrauber dort oben. Nimmt man noch die beiden Toten auf dem Bahnhof dazu, hat man reichlich Grund, sich Sorgen zu machen.“ Er wandte sich auf Englisch an Seidler. „Wer ist Ihr Auftraggeber gewesen? Beantworten Sie eine Frage nach der anderen!“
„Die Klinik Bern. Professor Grange – obwohl ich meistens
Weitere Kostenlose Bücher