Farben der Schuld
Augenwinkeln liegen Schatten.
»Ich habe mir nie Gedanken über meinen Vater gemacht. Er war einfach immer nur tot für mich. Und jetzt sagt mir sein Jugendfreund auf einmal, dass wir die gleichen Träume träumten.«
»Auf eine Art hast du das bestimmt schon gewusst.«
»Vielleicht, ja.«
Ich werde bald vierzig, denkt sie. Mein Vater starb, als ich drei war. Ich lebe nicht mehr zu Hause, seit ich achtzehn bin. Ich bin zu alt, plötzlich den möglicherweise verpassten Chancen einer glücklichen Kindheit nachzuhängen, das hat keinen Sinn. Aber das stimmt nur auf eine rationale Art, und wenn sie ehrlich ist, weiß sie, dass darunter noch eine andere Wahrheit liegt. Weil es eben doch nicht egal ist, von wem man abstammt, weil selbst ein toter Vater ein Anhaltspunkt ist, sich zu verorten. Sie sieht die jüngere Judith vor sich, unerreichbar entfernt und doch gestochen scharf. Erinnert sich an die ewigen Kämpfe mit ihrem Stiefvater Wolfgang Krieger. Um alles und jedes hatten sie gestritten, als ob der gemeinsame Nachname ein Omen war. Der See war eine Atempause. Love and Peace and Happiness. Sein Türkisgrün erinnert an die Farbe, in der sie ihr Wohnzimmer streichen will. Es wird nicht funktionieren, wird ihr plötzlich klar. An der Wand ist das die falsche Farbe. Ockergelb wäre vielleicht eine Idee, zumindest wäre das sonniger. Wärmer.
Karl sieht sie an. Aufmerksam. Ruhig.
»Und du?«, fragt sie ihn.
»Meine Eltern hatten eine Firma. Heizung und Sanitär, ich sollte mit einsteigen, klar, der älteste Sohn. Aber ich wollte immer nur fotografieren.«
»Du bist also deinen Weg gegangen.«
»Zum Glück hat nach einigem Hin und Her mein jüngster Bruder die Firma übernommen. Mein Vater wollte das eigentlich nicht, aber mir gab es die Freiheit mit einem einigermaßen intakten Gewissen zu gehen. Ich hab dann studiert und sehr schnell die Chance bekommen, Reportagen für Magazine zu fotografieren. Dann rutschte ich in die Werbefotografie rein und da ging es bald um richtig dicke Kohle und ich hab mitgespielt, hab meine eigene Firma gegründet. Bis ich merkte, dass das gar nicht das war, was ich hatte machen wollen. Ich hatte nur noch aufs Geld geguckt, vielleicht um meinen Vater doch noch zu beeindrucken. Aber meine Fotos waren seelenlos.«
»Nicht die Lochkamerafotos, die du mir gezeigt hast.«
»Nein, die nicht. Doch genau für solche Aufnahmen fehlte mir längst die Zeit.«
»Und jetzt?«
»Mal sehen.« Er lächelt. »Letzten Sommer habe ich meine Firma verkauft, mietete für den Rest des Jahres das Cottage eines Freundes an der irischen Bantry Bay und zog wieder mit meiner alten Leica los. Klassische Reportagefotografie mit nur einem 35-Millimeter-Objektiv. Als ich mich damit ausgetobt hatte, begann ich wieder mit der Lochkamera.«
»Leben deine Eltern noch?«
»Ja. Und sie sind nicht froh, dass ich, wie sie das sehen, einfach alles hingeschmissen habe.«
Eltern. Kinder. Hoffnungen. Träume. Ich hätte mir einen Vater gewünscht, gesteht Judith sich ein. Einen Vater, der mich unterstützt und stolz auf mich ist, auch wenn mein Weg ein eigener ist. Aber diese Chance hatte sie nicht bekommen und ihr Vater auch nicht, und niemand kann sagen, ob ihr Leben mit ihm wirklich besser verlaufen wäre.
Sie winkt nach der Bedienung. Vielleicht hat der Priester Georg Röttgen ja wirklich ein Kind gezeugt. Vielleicht ist diese streng verbotene und streng geheim gehaltene Vaterschaft der Grund für den Mord an ihm. Doch wer wäre der Täter, wenn es wirklich so ist? Die Mutter des Kindes, deren gehörnter Mann oder jemand, der Röttgens Fehltritt im Namen der Kirche rächen will? Sie muss dieses Kind finden, das Kind ist wichtig. Wenn es dieses Kind denn überhaupt gibt. Doch selbst wenn es existiert – wie passt das zu dem Mord an Jens Weiß? Wer hätte einen Grund, auch ihn zu töten?
»Du bist schon bei deinem Fall, stimmt's«, sagt Karl Hofer.
Sie bezahlt für sie beide und umarmt ihn. Fest. »Es muss eine Verbindung zwischen den beiden Opfern geben, ich kann einfach nicht an einen Serienmord glauben.«
»Vielleicht gibt es ja noch eine dritte Möglichkeit.«
»Nämlich?«
»Das weiß ich nicht. Aber oft ist die Wahrheit ja nicht einfach schwarz oder weiß, sondern sie liegt irgendwo dazwischen.«
***
Lähmung. Lähmung. Sie waren gelähmt, konnten nicht reagieren. Sie lagen auf dem Rücken, unfähig sich zu bewegen, bei vollem Bewusstsein. Der Täter stand über ihnen. Sie hatten Schmerzen. Sie haben
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