Farben der Schuld
die Mordwaffe gesehen, das Schwert. Wie der Täter es hochhob und auf sie niederfahren ließ, mit all seiner Kraft und all seinem Hass. Wie lange dauert es, bis das spitze Metall durch Kleidung, Haut und Fleisch geschnitten und das Herz zerfetzt hat? Sekundenbruchteile, jeder davon eine panikerfüllte Unendlichkeit. Es gibt keine Worte für diese Angst, keinen medizinischen Beweis. Ekaterina Petrowa steht zwischen den beiden Stahlbahren, sehr still, mit geschlossenen Augen. Die Angst der toten Männer war real, das kann sie fühlen. Doch das ist immer noch keine Antwort auf ihre dringlichste Frage: Warum haben sich die beiden Männer nicht gewehrt?
Ekaterina öffnet die Augen wieder und löst ihre Hände von den kalten Körpern. Etwas ist merkwürdig mit ihnen. Etwas, das sie von den anderen Opfern im Keller unterscheidet. Sooft sie den Chirurg und den Priester berührt, kann sie das spüren, das Rätsel verfolgt sie sogar bis in ihre Träume. Zwei rastlose Nebelkrähen, die klagen und schreien. Warum waren sie gelähmt? Beide Männer waren gesund und kräftig, ihre Muskeln und Sehnen sind intakt, sie haben vor ihrer Ermordung weder einen Hirnschlag noch einen Herzinfarkt erlitten. Strom, ein elektrischer Stromschlag kann eine vorübergehende Lähmung verursachen, schon ein paar Mal hat sie diese Möglichkeit erwogen. Vielleicht attackierte der Täter sie mit einem Elektroschocker. Aber falls es so war, hat der Stromschlag keinerlei Spuren hinterlassen. Wie also soll sie das beweisen?
Ekaterina schiebt die beiden Toten wieder in ihre Kühlfächer, wirft ihren Kittel in den Wäschekorb und wäscht sich die Hände. Ihr Gesicht wirkt geisterhaft durchscheinend im Neonlicht. Die dunklen Schamanenaugen ihrer Großmutter scheinen ihr aus dem Spiegel entgegenzustarren.
»Ich hab alles versucht, Babuschka, ich finde es nicht«, flüstert Ekaterina und hört die Antwort der Großmutter so klar, als stünde sie wirklich vor ihr: Du kannst das besser, Katjuschka, das weißt du, du musst es weiter probieren.
Ekaterina löscht das Licht im Kühlkellerraum und geht nach oben in ihr Büro. Die nächste Obduktion steht erst in zwei Stunden an. Die Berichte über den Arzt und den Priester helfen ihr nicht weiter. Sie zieht Pelzmütze, Handschuhe und Mantel an, schnell, bevor sie es sich wieder anders überlegen kann. Die Luft draußen ist feucht und kühl, Autos und Straßenbahnen lärmen, entfernt ist das Heulen eines Martinshorns zu hören.
Ekaterina läuft mit energischen Schritten. Die Luft tut ihr gut, hilft ihr, sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren. Sie mag keine Krankenhäuser, auch wenn sie Ärztin ist. Sie hat ihre Praktika dort absolviert, natürlich, ja. Sie untersucht dort überlebende Gewaltopfer, wenn diese zu schwer verletzt sind, um ins Institut zu kommen. Sie arbeitet dann immer problemlos und routiniert mit dem Klinikpersonal zusammen, nie gibt es irgendwelche Beschwerden über sie. Doch wie schon als Studentin ist sie jedes Mal erleichtert, wenn sie die Kranken wieder verlassen kann, um sich um die Toten zu kümmern. Im Untergeschoss, überall ist das so, immer sind die Toten im Kellertrakt untergebracht. Weil sie kein Licht mehr benötigen und weil die Lebenden ihre Existenz verleugnen wollen, so gut das eben geht.
Ekaterina ist schneller, als sie geplant hat, nach nur 2.0 Minuten erreicht sie die Klinik, in der Erwin Bloch behandelt wird. An der Pförtnerloge zeigt sie ihren Dienstausweis und wird nach einem kurzen Telefonat mit der zuständigen Stationsärztin zu einem Aufzug dirigiert. Die Kardiologische Abteilung befindet sich im dritten Stock. Die Metallwände des Aufzugs scheinen sich auf Ekaterina zuzuschieben, nachdem sich die Türen schließen.
Du darfst keine Angst haben, Katjuschka. Ekaterina nimmt ihre Pelzmütze ab und streicht glättend über ihr widerspenstiges Haar, bevor sie die Klinke von Blochs Krankenzimmer herunterdrückt. Es ist überheizt hier drinnen. Ein Fernseher blökt. Drei alte Männer in Pyjamas glotzen ihr entgegen. Der in dem Bett unter dem Fenster sei Erwin Bloch, hat die Stationsärztin gesagt. Ekaterina zieht ihren Mantel aus, hängt ihn über einen Stuhl. Die Augen der Männer gleiten über ihren mintgrünen Hosenanzug, machen kurz bei den weißen Lackstiefeln halt, huschen dann wieder hoch, über die Taille zu ihren Brüsten.
»Oh, là là«, der Greis im mittleren Bett schnalzt mit der Zunge, ein Schauer Spucketröpfchen ist im Gegenlicht deutlich zu sehen.
»Herr
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