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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedict Wells
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diese tickende Zeitbombe
in seiner Seele tun konnte.
    „Du, Frankie?“ Nicky stellte ihm noch immer so gern
Fragen wie früher, als sie zusammen im Stockbett geschlafen hatten. „Bin ich
zu klein für mein Alter?“
    „Wie kommst du darauf?“
    „Alle in der Klasse sagen das. Selbst Linda, das
kleinste Mädchen, ist ein bisschen größer als ich. Ich bin wirklich zu klein.“
    „Ach, Quatsch, du bist nicht zu klein.“
    Natürlich war sein Bruder zu klein, viel zu klein
sogar. Er fing ja schon an, sich mit anderen kleinen Menschen zu
identifizieren. Nicky hatte mehrere Poster von dem Harry-Potter-Schauspieler in
seinem Zimmer, dazu welche von Frankie Muniz und auch eins von Elijah Wood.
Sein Zimmer war ein Schrein der Winzlinge.
    „Du bist genau richtig“, sagte Francis. „Und ich bin
mir sicher, dass du bald in die Höhe schießen wirst.“
    „Echt? Das war schon cool. Weißt du, ich möchte ja
gar nicht so riesig werden wie du. Nur ein bisschen größer als Linda. Sie ist
wirklich klein, alle nennen sie Maus, und mich nennen sie jetzt auch Maus.“
    Francis musste lächeln. Er dachte daran, wie Nicky
und er früher Verstecken gespielt hatten. Nicky hatte sich fast immer im
Schrank auf dem Speicher verkrochen und jedes Mal angefangen zu kichern, wenn
man sich dem Schrank auch nur genähert hatte. Francis erinnerte sich, wie sein
Bruder einmal vor dem Fernseher eingeschlafen war. Er hatte ihn in ihr Zimmer
getragen, ins Bett gelegt und zugedeckt und diesen kleinen unschuldigen Gnom
danach noch eine ganze Weile betrachtet, vor Rührung, dass er sein Bruder sein
durfte. Nicky war immer irgendwie gut gewesen, niemals hätte er etwas Schlimmes gemacht oder anderen
weh getan. Einmal hatte Francis geträumt, dass er als sein Beschützer
arbeitete, als richtiger Fulltime-Job. Danach war er sich sicher gewesen, dass
er das wirklich gemacht hätte, wenn so etwas möglich gewesen wäre. Francis
hatte immer geahnt, dass sein Leben nicht so viel wert sein würde. Aber Nicky
würde mal groß rauskommen, da war er sich sicher. Als Senator vielleicht. Er
konnte sich richtig vorstellen, wie sein Bruder später in einer Villa lebte, immer
noch winzig, und wie er selbst auch dort wohnte und Nicky Tag und Nacht
bewachte. Das war wohl der einzige Job, bei dem er glücklich gewesen wäre. Er
hätte immer bei seinem kleinen Bruder sein können und wäre wichtig gewesen,
weil er ihn vor dem ganzen Mist beschützt hätte, der ihm selbst widerfahren
war.
     
    Nachdem er aufgelegt hatte, schlenderte Francis den
Vegas Boulevard entlang und kam am Bellagio vorbei, wo die Wasserfontänen in
den Himmel schossen, als sei nichts geschehen. Er lehnte sich ans Geländer und
legte den Kopf in den Nacken. Ihm fiel wieder ein, wie Toby mal gemeint hatte,
dass sie alle in Ketten lagen und es nur nicht wussten. Er steckte sich eine
Zigarette an, schmiss sie jedoch nach der Hälfte weg.
    Dann stellte sich jemand neben ihn.
    Grover und Francis nickten sich zu, sagten aber erst
mal beide kein Wort. Sie beobachteten die Touristen, die an ihnen
vorbeigingen.
    „Tut mir leid“, meinte Grover nach einiger Zeit. „Ich
war mir sicher, du würdest gewinnen.“
    „Schon okay... Wo ist Anne-May?“
    „Im Zimmer.“
    Wieder schwiegen sie. An der Straßenecke stand ein
Mann mit Gitarre, er spielte einen Bob-Dylan-Song und sang dazu. The Lonesome Death of Hattie
Carroll. Francis wusste nicht, wieso, aber
das verdammte Lied machte ihn traurig. Er brauchte dringend eine Aufmunterung.
    „Kannst du mir noch mal fünfzig Dollar leihen?“
    „Sicher. Wieso, Francis?“
    Minuten später betraten sie einen kleinen Schuppen
in einer Seitenstraße, das Acropolis. Niemand wollte ihre Ausweise sehen. Drinnen war
wenig los, neben einem alten Mann in der Ecke waren sie die einzigen Gäste. Vor
ihnen auf der Bühne tanzte eine brünette Stripperin lustlos an der Stange
herum. Sie bestellten zwei Bier und schauten zu, wie die Frau ihren bh auszog.
Francis stellte fest, dass es ihn schnell langweilte.
    „Bist du eigentlich noch sauer auf mich?“
    Grover, der gebannt zugesehen hatte, linste zu ihm
rüber. „Warum?“
    „Wegen gestern, was ich über dich gesagt habe. Ich
war einfach eifersüchtig. Denk dir wirklich nichts dabei, okay?“
    Grover zuckte mit den Schultern, während die Frau
jetzt wild um die Stange tanzte. „Du hattest aber recht“, sagte er. Er nahm die
Brille ab und säuberte sie mit einem Taschentuch. „Ich bin ein Loser. Das
wusste ich schon

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