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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedict Wells
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es
streifte die Hörner, Klarinetten und die Pauken und wehte dann nach oben zu der
Decke aus Holzbögen. Schließlich flog es zu den Zuschauern, es traf sie nicht
unerwartet und dennoch stark, es berührte jeden auf andere Weise. Als es
Anne-May erwischte, bekam sie glänzende Augen, und als es zu Francis kam,
blickte er zu der Hand, die neben seiner lag. Vorsichtig tastete er nach
Anne-Mays Fingern. Erst reagierte sie nicht, dann schien ihre Hand zu erwachen
und nach seiner zu greifen.
     
    Nach der Vorführung schwärmte Anne-May von der einzigartigen
Akustik und bedankte sich überschwenglich für die Einladung. „Als Kind hab ich
Tschaikowskys Violinkonzert nicht gemocht“, sagte sie. „Aber jetzt hat es mir
gefallen. Der Geiger war großartig!“
    Francis nickte zwar, ihn interessierte jedoch mehr,
dass sie sich wieder bei ihm eingehakt hatte. In einem nahe gelegenen
italienischen Restaurant bestellten sie Spaghetti mit Meeresfrüchten, dazu
tranken sie Rotwein. Zum ersten Mal fiel Francis das Reden leicht. Der Erfolg
mit den Philharmonikern und die Tatsache, dass er vielleicht bald seinen Vater
sehen würde, versetzten ihn in einen Rauschzustand. Er hatte das Gefühl, noch
nie so gut gewesen zu sein, er war schlagfertig und witzig, und ihm war, als
könne er dabei zusehen, wie Anne-May sich in ihn verliebte. Beim Dessert nannte
sie ihm ihre Lieblingsgedichte, sie konnte ein paar von einem Typen namens „Whiteman“
oder so auswendig und trug sie ihm vor. Er selbst hatte natürlich keine Lieblingsgedichte,
er kannte nur Filme und Serien. Doch an diesem Abend gelang ihm alles, das
spürte er, und er hatte etwas, das noch viel besser war als die Gedichte von
diesem „Whiteman“.
    „Kennst du Blade
Runner, mit Harrison Ford?“, fragte er. „Die
Szene, in der der Replikant stirbt und man erkennt, dass er eigentlich
menschlicher als alle Menschen war? Seine letzten Worte sind zwar kein Gedicht,
aber ziemlich philosophisch. Wird dir gefallen.“
    Anne-May schüttelte den Kopf und sah ihn gespannt
an.
    „Also, Replikanten sind künstlich gezüchtete
Menschen. Manche wissen aber nicht, dass sie Replikanten sind, sie glauben
echte Menschen zu sein. Die meisten werden gejagt und getötet. Und am Schluss
des Films gibt es eine Szene, in der Harrison Ford den Anführer der Replikanten
erwischt hat. Es ist Nacht, der Replikant liegt im Sterben. Während der ganzen
Geschichte dachte man, er sei nur ein gefühlskalter Roboter. Aber dann sagt er
- es regnet in Strömen - im Moment seines Todes noch ein paar Worte:
     
    Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals
glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des
Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser
Tor.
    All diese Momente werden verloren sein in der Zeit,
so wie... Tränen im Regen.
     
    Zeit zu sterben.
     
    Francis konnte das auswendig, weil ihn die Szene
ziemlich berührt hatte, als er den Film das erste Mal sah. Er wusste nicht,
wieso, aber als er diese Worte gehört hatte, hatte er feuchte Augen bekommen.
Er hatte damals immer wieder das Video zurückgespult und sich gedacht: Das ist es... Genau das ist es!
    Er strahlte Anne-May an.
    „Ist das etwa schon das ganze Gedicht gewesen?“,
fragte sie.
    Francis nickte.
    „Das ist doch bescheuert, du kannst doch Walt
Whitman nicht mit Blade Runner vergleichen“, sagte sie, aber er sah genau, dass es ihr
gefallen hatte.
    Als sie ins Motel kamen, schlief Grover schon in
seinem Bett. Francis blickte Anne-May lange an. Dann ging er auf sie zu und
küsste sie. Sie liebten sich im Badezimmer, und obwohl das ziemlich kompliziert
gewesen war, wusste Francis, dass jetzt wieder alles gut war. Endlich hatte er
sie für sich. Im Bett legte sie ihren Arm auf seinen Bauch, und er schlief so
schnell ein wie seit Monaten nicht mehr.
    Um vier Uhr morgens wachte er auf, weil er jemanden
schluchzen hörte. Anne-May lag nicht neben ihm. Francis fand sie im Bad. Dort
saß sie auf dem Boden und heulte. Blut rann aus den Schnittwunden an ihrem
linken Arm und tropfte auf die weißen Kacheln.
     
    5
     
    „Was machst du da ?“ Francis richtete sie auf. Die Schnittwunden waren Gott
sei Dank nur am Unterarm und nicht an den Handgelenken. Am Boden lag ein
aufgeklapptes Messer. Er klappte es zu und steckte es ein. „Wieso machst du
das, wieso?“
    Sie weinte noch immer. „Ich ... kann ... nicht mehr.“
    „Was ist denn los?“
    „Ich liebe dich nicht, Francis,

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