Fast genial
ich liebe dich
einfach nicht.“
Scheiße, dachte er. Wie gelähmt stand er da und murmelte
geistesabwesend, dass sie sich deshalb doch nichts anzutun brauche.
Anne-May sank wieder auf den Boden, er setzte sich
neben sie. Sie schneuzte sich mit Toilettenpapier. „Es war alles gelogen, was
ich dir gesagt habe.“
„Was war gelogen?“, fragte er.
„Mein Vater hat mich nie vergewaltigt.“
„Nein?“
„Nein, ich bin nicht deshalb in die Klinik
gekommen.“
„Aber warum sonst?“
„Ja, warum...“ Sie lächelte, aber es wirkte falsch,
wie eine schlechte Nachahmung. „Ich wollte nicht sterben, wirklich nicht. Aber
ich wollte auch nicht mehr so weiterleben.“
Sie bemerkte seinen irritierten Blick und schüttelte
den Kopf. „Ich war elf, als mein Bruder totgefahren wurde“, sagte sie. „Er war
damals sieben, und es war meine Schuld, ich hätte auf Jerome aufpassen sollen.
Mein Vater war wegen seinem Job oft in New York, und meine Mutter war
ebenfalls viel beschäftigt. Also haben sie mir Jerome anvertraut. Einmal
sollte ich ihn zur Mall mitnehmen, was mich sehr genervt hat. Außerdem war ich
eifersüchtig auf ihn, weil ihm meine Eltern so viel erlaubt haben, in seinem Alter
durfte ich nie ohne Erwachsene zur Mall. Ich ging deshalb absichtlich ein paar
Meter vor ihm und beachtete ihn nicht. Wir waren schon auf dem Rückweg. Jerome
war immer zappelig und ließ sich leicht ablenken, und dann wollte er plötzlich
wegen irgendwas auf die andere Straßenseite. Ich hatte mich umgedreht, doch ich
stand viel zu weit weg, er war schon losgerannt. Ich hab gebrüllt, dass er
aufpassen soll, dann hat es einen dumpfen Knall gegeben. Ich sah ihn auf der
Straße liegen und bin zu ihm hin. Er sah so furchtbar aus ...“ Sie schloss die
Augen und schien die Bilder abschütteln zu wollen.
Francis lehnte den Kopf gegen die Wand. „Das ist
nicht deine Schuld“, sagte er, aber es klang leer. „In tausend anderen Fällen
passiert der Unfall nicht. Und du warst doch selbst noch ein Kind.“
Anne-May reagierte kaum darauf. „Sie haben sein Zimmer
genau so gelassen, wie es war, sogar jetzt noch“, sagte sie. „Mein Vater hat
nur noch gearbeitet und war fast nie zu Hause, und meine Mutter wurde
übertrieben religiös. Sie hat viel geweint, auch mein Vater manchmal, nur ich
selbst nie. Es gab über den Tod meines Bruders einen Zeitungsartikel, und den
hab ich oft durchgelesen und mich dafür verflucht, dass ich nicht so traurig
war, wie ich es hätte sein müssen. Mir kam es in den Jahren danach immer mehr
so vor, als ob ich einfach nicht richtig fühlen konnte. Nicht lieben, nicht
weinen und auch nicht glücklich sein. Ich war einfach nur kalt. Das hat mich
krank gemacht. Ich meine, wer will schon so sein? Ich hab mich in der Schule
zurückgezogen und mit dem Klavierspielen aufgehört. Wenn ich Menschen
gezeichnet habe, hatten sie Augen ohne Pupillen, ganz leer. Ich fand es
schöner so, aber ich wusste, dass das nicht normal war. Danach habe ich
angefangen, Mäuse zu zeichnen, da ist das nicht so aufgefallen.“
Sie schneuzte sich noch mal. „Es wurde mit der Zeit
immer schlimmer“, sagte sie. „Es kam noch der Druck dazu, den meine Eltern
ausgeübt haben, weil sie jetzt wenigstens eine scheiß perfekte Tochter haben
wollten, was weiß ich. Ich war dann mal kurz wegen Magersucht in Behandlung und
hab zu viel gekifft. Ich hab mich gehasst. Dafür, dass ich nie traurig oder
zumindest wütend gewesen bin. Dafür, dass meine Eltern mit mir immer tun
konnten, was sie wollten. Dann hab ich mich jedes Mal gefragt, wo Jerome jetzt
ist und was nach dem Tod passiert. Und schließlich gab es da diese eine Nacht,
in der ich zu viel geraucht und zu viel düstere Musik gehört habe und wohl zu
weit gegangen bin.“ Sie richtete sich auf. „Aber egal. Ich bin jedenfalls
nicht vergewaltigt worden, und ich will, dass du das weißt.“
Francis war unsicher, wie er reagieren sollte. Das
Sitzen auf dem Boden war unbequem, sein Rücken begann zu schmerzen. „Ich weiß
nicht, was ich dir auf das alles antworten soll“, meinte er schließlich. „Das
tut mir leid, denn ich würde dir jetzt wirklich gern was Schönes und Aufbauendes
sagen.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Francis.
Für gar nichts. Du bist wirklich der beste Mann, den ich mir vorstellen kann.“
Ihre Hand lag auf seinem Arm. „Und ich fühle mich auch manchmal wirklich zu dir
hingezogen. Aber ich liebe dich einfach nicht - und deshalb hasse ich
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