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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedict Wells
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diskutieren, dachten sich
immer neue Fragen aus und spielten dieses alberne Spiel ein letztes Mal.
     
    Anne-May hatte sich umgezogen und stadtfein gemacht.
Als sie zum Aufbruch bereit war, sagte Grover, dass er höllische Kopfschmerzen
habe. Er machte das ganz überzeugend und meinte, er würde den Abend lieber im
Motel verbringen und früh schlafen. Francis nickte ihm heimlich zu und bildete
mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis, dann fuhren er und Anne-May allein mit
dem Bus in die Stadt zurück.
    „Hm, mal schauen, was wir heute machen“, sagte er,
als sie am Civic Center ausstiegen.
    Anne-May nickte kühl, und ihm dämmerte, dass sie das
nicht gerade geniale Manöver mit Grover durchschaut hatte und ihn das jetzt
büßen ließ. Sie war wirklich zu schlau für ihn.
    Unzählige Autos sausten an ihnen vorbei, sie
schienen die Einzigen zu sein, die in dieser Stadt zu Fuß unterwegs waren. „Hast
du auf was Bestimmtes Lust?“, fragte er.
    „Nein.“
    „Komm, irgendwas. Wir machen auch, was du willst.
Wir können Billard spielen oder in einen Club gehen oder in ein Restaurant oder
ins Kino.“
    „Entscheide du“, sagte sie, und er merkte, dass sie
auf all diese Sachen keine Lust hatte. In der Klinik hatte er sie für sich
allein gehabt. Er hatte nicht viel machen müssen, außer täglich in ihr Zimmer
zu kommen und einfach da zu sein. Hier draußen aber hatte er keine Chance, denn
sie hatte ihn als Langweiler abgeschrieben. Anne-May brauchte überhaupt nichts
zu tun, und er liebte sie immer stärker. Sie hätte einen Apfel essen können,
und er wäre begeistert gewesen. Er selbst musste sich dagegen ungeheuer
anstrengen. Und an diesem Abend würde er das tun!
    Sie gingen an Cafes, Kliniken und Banken vorbei und
bogen in die Grand Ave ein. Auf einmal standen sie vor dem Baukomplex aus
Stahl, den er schon vorhin auf einem Flyer in der Pension gesehen hatte. Das
Gebäude glich mit seinen geschwungenen Bögen einem gigantischen silbernen Segelschiff.
Dutzende Menschen strömten darauf zu, Francis ging einfach mit. Anne-May folgte
ihm eher widerwillig.
    „Weißt du, von wem der Bau hier ist?“, fragte er
sie.
    „Mein Vater ist mit dem Architekten befreundet, er
ist von Gehry.“
    Als sie ihren Vater erwähnte, zuckte er zusammen. „Ja,
aber weißt du auch, was in diesem Gebäude drin ist?“, fragte er weiter.
    „Sicher. Wieso?“ Endlich erkannte er in ihrem Blick
eine erste Spur von Aufregung.
    Und dann standen sie auch schon vor einem Aufsteller
mit dem Plakat: Los Angeles Philharmonie
Orchestra.
     
    Francis schleppte Anne-May zur Abendkasse. Er hatte
hohe Preise erwartet, doch was er nun sah, übertraf seine Vorstellungen bei
weitem. „Francis, was machst du da?“
    „Es war doch immer dein Wunsch, die Philharmoniker
in Los Angeles zu hören, oder? Das hast du mir jedenfalls mal in der Klinik
gesagt. Und ich hab gesehen, dass heute eine Aufführung ist.“
    „Aber das kostet viel zu viel, du hast doch gar kein
Geld dafür“, sagte sie, allerdings war sie jetzt bei der Sache.
    „Das werden wir sehen.“ Francis zog einen großen
Geldbeutel aus der Tasche.
    „Woher hast du den?“
    „Willst du nicht wissen“, sagte er und öffnete Dr.
von Waldenfels' Lederportemonnaie. Schon vor ein paar Stunden hatte er
enttäuscht feststellen müssen, dass weder Kreditkarten noch wichtige
Telefonnummern darin zu finden waren. Dafür aber knapp sechshundert Dollar.
Eine kleine Entschädigung für den Wahnsinn seiner Zeugung.
    Er nahm ein paar Scheine in die Hand und kaufte zwei
der teuersten Konzerttickets.
    „Tschaikowsky“, flüsterte Anne-May, als sie
hineingingen. „Ich liebe ihn.“
    Der Saal war brechend voll, von überall her hörte
man gedämpftes Stimmengewirr. Die Zuschauerplätze waren rund um die Bühne
angeordnet, sie saßen nur wenige Meter von den Musikern entfernt. Francis
genoss Anne-Mays Blicke, und auf einmal sprudelte es aus ihr heraus. Sie
erzählte, wie sie als Kind vor dem Einschlafen die l. a . Philharmoniker gehört und wie oft sie sich diesen
Moment vorgestellt habe. Als die Musiker ihre Instrumente gestimmt hatten und
der Dirigent die Arme erhob, stieß sie Francis vor Aufregung kurz in die Seite
und schaute gebannt auf die Bühne. In diesem Moment kam ihm Anne-May sehr
kindlich vor, und er meinte, das zehnjährige Mädchen zu sehen, das sie einmal
gewesen war.
    Die Musik breitete sich im Saal aus. Im Orchester
war etwas entstanden, es flog von der Violine zu den Oboen und Trompeten,

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