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Faunblut

Faunblut

Titel: Faunblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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»Ich … bringe nur meinen Rucksack weg.«
    Jakub nickte. »Zieh dir Schuhe an«, brummte er und wandte sich wieder dem Fahrstuhl zu. Lilinn warf ihr einen letzten ernsten Blick zu und ging hinüber zum Küchentrakt, um sich um das Essen der Gäste zu kümmern. Sie würde nicht viel Arbeit haben. Nur zwei Händler aus dem Südland hatten im zweiten Stock Quartier bezogen. Sie gaben sich mit gekochten Flusskrebsen zufrieden und beschwerten sich nicht darüber, dass sie ihre Handelswaren eigenhändig ins Zimmer bringen mussten. Nun, das Larimar war keine Unterkunft für verwöhnte Herren, eher für Durchreisende und Bittsteller, die auf eine Audienz bei der Lady oder ihren Verwaltern warteten.
    Jade hängte sich den Rucksack über die Schulter und nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die breite Treppe hinaufstürmte.
    Dort, wo sich die Treppe zum dritten Stock befinden sollte, gähnte ein Trümmerloch. Alles, was den oberen Teil des Larimar mit dem unteren verband, war eine Holzleiter, die natürlich keinem Gast zugemutet werden konnte. Jade erklomm sie ohne Mühe und zog sich durch ein Loch in der Decke direkt in den Flur im dritten Stock.
    Früher war der Teppich rot gewesen, nun aber zeigte er ein verblichenes Rosa. Die Zimmertüren waren noch blutrot gestrichen, doch der Lack war beschädigt und erinnerte an alte Karten von Kontinenten und Inseln. Jade kannte jedes Zimmer so gut, dass sie es auch mit verbundenen Augen hätte betreten können, ohne an ein Möbelstück zu stoßen. Es gab Zeiten, da schlief sie jede Nacht in einem anderen Zimmer – meistens dort, wo es etwas zu reparieren gab. Doch wenn sie ganz allein sein wollte, so wie jetzt, dann gab es einen ganz besonderen Raum, der nur ihr gehörte.
    Kein Gast hatte ihn jemals betreten, und selbst Jakub erinnerte sich nur selten daran, dass er existierte. Die Kammer lag im dritten Stock, an der Frontseite, die zum Fluss zeigte, und hatte als einziges Zimmer keine Tür, sondern nur ein kreisrundes Fenster, ein Bullauge, wie es auf Schiffen üblich war. Allerdings fehlte das Fensterglas, was das Zimmer im Winter unbewohnbar machte. Für Jades Zwecke war das fehlende Glas genau richtig, denn das Fenster war der einzige Zugang.
    Sie betrat den Raum, der neben dem verborgenen Zimmer lag – ein Schlafzimmer mit einem Bett aus rostigen Metallstreben und Wasserschlieren an den Wänden, die verschlungene Muster bildeten. Einige der Wasserspuren waren erstaunlich gerade, und wenn Jade die Augen zusammenkniff, konnte sie erahnen, wo sich die Tür zur geheimen Kammer befunden hatte, bevor jemand sie zugemauert und die Wand neu gestrichen hatte. Sie zog sich die Riemen des Rucksacks über die linke Schulter und trat zum Fenster. Das Sims war breit und einladend, und als sie den Fuß darauf setzte und hinauskletterte, umfing sie ein warmer Windstoß, der vom Fluss hinaufwehte und nach Algen und Wasser roch. Weit unter ihr umspülte die Wila die Wassertreppe. Würde Jade ausrutschen und stürzen, käme sie auf den Steinstufen auf.
    Mit routiniertem Griff ertastete sie rechts vom Fenster einen der beiden Steinaale, die das Bullauge säumten, hielt sich daran fest und trat auf das steinerne Sims, das der Fassade Struktur gab. Es fiel ihr nicht schwer, an der Außenmauer entlang zum Fenster zu balancieren. Tief unten im Wasser sah sie ihr Spiegelbild, gleich neben der Treppe, wo sich das Wasser staute. Sie verharrte einige Augenblicke und betrachtete es, während sie sich mit beiden Händen am Steinaal festhielt. Und richtig – auch heute veränderte sich das Bild im Wasser. Die Jade in den Wellen hob eine Hand und winkte ihr zu. Das war auch etwas, was sie Jakub verschwieg: Spiegelbilder winkten nicht, aber Jades Bild bewegte sich von Zeit zu Zeit, schnitt Grimassen oder lachte, wenn Jade traurig war. Niemand außer ihr konnte es wahrnehmen, und Lilinn meinte, es sei ein Spiel, das die Wila mit ihr treibe, sie solle sich nur niemals in die Fluten locken lassen.
    Jade lächelte ihrem Flussbild zu, genoss einen Atemzug lang das Gefühl der Höhe und den Wind. Sie ließ den Rucksack am Arm herunterrutschen, warf ihn mit Schwung durch das runde Fenster und kletterte dann selbst hinterher.
    Dunkelblau gestrichene Wände ließen die quadratische Kammer noch kleiner wirken. Auf dem Boden lagen all die Dinge, die Jade nach und nach durch das Fenster hineingeschafft hatte: Decken, die ein Schlaflager bildeten, und Kleidung, die in unordentlichen Stapeln an der Wand aufgereiht war.

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