Faunblut
zu, schloss mit einem energischen Schubs seines Ellenbogens das Fahrstuhlgitter und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Doch dann fiel sein Blick auf Jades bloße Füße und ihren aufgeschürften Knöchel und sein Lächeln verlosch. Jade durchlief ein siedend heißer Schreckschauer. Verdammt! Warum hatte sie nicht daran gedacht, ihre Schuhe wieder anzuziehen?
Von einer Sekunde auf die andere war ihr Vater blass geworden. Der Lappen fiel zu Boden.
»Was zum Teufel ist passiert?«, donnerte Jakub und stürzte auf sie zu. »Warum zum Henker blutest du und wo sind deine Schuhe?«
Jeder Fremde wäre bei einem solchen Ausbruch erschrocken, und früher, als kleines Mädchen, hatte sich auch Jade oft vor seinem Zorn und seiner lauten Stimme gefürchtet. Doch hinter dem Jähzorn verbargen sich Angst und Sorge, die ihren Vater nur selten ruhig schlafen ließen. Je lauter er fluchte, desto schlimmer war ihm der Schreck in die Knochen gefahren. »Gar nichts ist passiert!«, gab sie zurück. »Ich bin an einer Wand hochgeklettert und abgerutscht – und dann war keine Zeit mehr, die Schuhe anzuziehen. Wir mussten sehen, dass wir wegkommen, bevor …«
»Bevor was?« Jakubs Finger gruben sich in ihre Schultern, seine Augen, bernsteinbraun und warm, wirkten plötzlich hart.
»Wir mussten verschwinden«, kam Lilinn Jade zu Hilfe. »Einige Jäger waren in der toten Stadt auf Patrouille.«
Im nächsten Moment fand sich Jade schon zum zweiten Mal an diesem Tag in einer Umarmung wieder.
»Um Himmels willen!«, murmelte Jakub in ihr Haar. »Wie viele waren es? Haben sie euch entdeckt? Zitterst du, Jade? Du zitterst ja!«
Jade schluckte und schloss die Augen, um das Bild des Echogesichts abzuschütteln, dann machte sie sich behutsam los. »Mir ist kalt, nichts weiter«, sagte sie so ruhig wie möglich und schaffte es sogar, ihrem Vater zuzulächeln. »Wir haben sie gesehen, ja. Aber sie waren nicht hinter uns her. Mach dir keine Sorgen.«
Es kostete sie viel, ihre Stimme so sicher und beruhigend klingen zu lassen. Sie wich Jakubs prüfendem Blick aus und griff stattdessen nach ihrem Rucksack. Obwohl sich nur ihre Schuhe darin befanden, erschien er ihr so schwer, als wäre er aus Blei. Die Lüge lastete auf ihr, und sie war sicher, dass ihr Vater das Gewicht ihrer Worte spürte, doch sie liebte Jakub viel zu sehr, um zuzulassen, dass die Albträume ihn wieder einholten. Und er – das wusste sie genau – liebte sie viel zu sehr, als dass er auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen hätte, sie könnte ihn belügen.
In Situationen wie diesen kam es Jade so vor, als hätten ihr Vater und sie im Lauf der Jahre ihre Rollen getauscht: Ihre Wege führten nach draußen, in die Stadt, zu den Märkten und zum Hafen, während Jakub sich mehr und mehr in den Untergrund des Hauses zurückzog, Rohre erneuerte und reparierte, sich um die Krebsreusen kümmerte und Fahrstuhl und Bäder instand hielt. Es war, als müsste sie ihren Vater beschützen vor dem, was sich in der Stadt abspielte, vor den Echos, deren Namen sie innerhalb des Hotels nicht einmal nennen durfte.
»Jedenfalls haben wir kein Relais bekommen«, erklärte sie. »Und heute ist bestimmt nichts mehr zu holen. Sicher haben Manu und die anderen den Markt geräumt, als sie die Galgos hörten.«
Jakub schluckte noch einmal schwer, doch er entspannte sich endlich. Seine Fäuste öffneten sich und schließlich nickte er.
»Keine Ersatzteile also. Macht nichts. Im Augenblick haben wir genug freie Zimmer im ersten und im zweiten Stock.« Das war schamlos untertrieben, aber Jakub sprach von seinem Hotel stets so, als wäre es gut besucht. »Außerdem haben wir gerade ohnehin keinen Strom mehr. Da müssen die Leute ihren Krempel sowieso die Treppe raufschleppen. Aber wenn ich das Ding schon halb auseinandergenommen habe, werden wir die Zeit nutzen und die Leitschienen überprüfen. Irgendwas schabt zwischen dem zweiten und dritten Stock. Jade, du hilfst mir, du steigst auf die Kabine und siehst dir den Schacht darüber an. Im Schaltraum gibt es auch noch einiges zu tun. Und was das Licht angeht … am besten, du gehst morgen zum Hafen und borgst uns einen Kanister Lampenöl.«
»Ich kann Martyn fragen«, sagte Jade. »Er schuldet mir ohnehin noch was.« Bei der Erwähnung von Martyns Namen konnte sich Lilinn ein Grinsen nicht verkneifen. Der Alltag holte Jade wieder ein, sie war in Sicherheit und dennoch fröstelte sie. »Ich komme gleich wieder und helfe dir«, fuhr sie fort.
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