Faunblut
die Hafenbucht schützend umfasste. An der Spitze der Felsenkette erhob sich der Leuchtturm aus weißem Stein. Vor ihm glänzte die Barke der Lady, ein goldenes, schlankes Prachtschiff, auf dem dunklen Wasser. Und dahinter erstreckte sich weit und geheimnisvoll wie ein dunkelgrauer Spiegel, der die Bilder der Wolken einfing – das Meer!
Ein scharfer Pfiff ertönte. Jade kniff die Augen zusammen und spähte nach rechts zur Hafenbucht mit den Anlegestellen. Seit einigen Tagen lagen hier zwei eiserne Kolosse vor Anker – Frachtschiffe von den südlichen Inseln. Diese Händler waren schon früh angereist, um Wein und Stoffe für eines der vielen Feste im Winterpalast anzuliefern. Neu eingetroffen war auch eine filigran aussehende Kogge, die Gewürze geladen hatte. Und direkt neben der Kogge lag die Fähre der Feynals. Seltsamerweise war sie schwer beladen, als hätte sie eine Nachtfahrt hinter sich. Kisten wurden über einen Flaschenzug vom Boot abgeladen. Mit Pfiffen und Handzeichen dirigierten die Flussleute die Fracht. Zwei graue, struppige Hunde waren an der Reling angebunden und verfolgten wachsam und misstrauisch jede ihrer Bewegungen.
Inmitten der Flussleute konnte Jade Martyn schon von Weitem ausmachen. Sein Haar war so ausgebleicht, dass es an den Spitzen golden wirkte und noch gekräuselter als das von Jade. Das Tuch, das er sich um die Stirn gebunden hatte, leuchtete lavarot – ebenso seine Gürtelschärpe, an der allerlei Haken und Werkzeug hingen. Die anderen Flussleute bevorzugten dunklere Kleidung, Martyn aber liebte alle Farben des Feuers.
Sobald Jade beim Boot angelangt war, wandte er sich schon zu ihr um, als hätte sie ihn gerufen. Es war gespenstisch, aber Martyn schien stets zu spüren, wann sie in der Nähe war. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und sie konnte gar nicht anders, als es zu erwidern. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Arif, der dunkel und verschlossen war und selten lachte, schien Martyn alles Helle in sich zu vereinen. »Sonne und Mond«, so nannte Jade die Brüder im Stillen. Im Augenblick war Martyn allerdings eine Sonne, die vor Regen triefte. Sein Hemd war völlig durchnässt und klebte an seinen Schultern.
»Wenn du so früh am Hafen auftauchst, willst du doch etwas!«, rief er lachend, sprang vom Boot auf die Mole und stellte sich mit verschränkten Armen vor sie hin. »Raus damit! Was ist es diesmal?«
»Lampenöl«, erklärte Jade unumwunden. »Ihr habt doch noch welches. Ein halber Kanister reicht mir.«
Martyns Augen blitzten amüsiert auf. »So, mal wieder kein Licht im Larimar? Tja, ein wenig Lampenöl habe ich tatsächlich noch. Aber ob es für einen halben Kanister reicht, hängt ganz davon ab, was ich als Gegenleistung bekomme, Fee.« Sein Lächeln wurde noch breiter.
»Lass die Fee und spar dir das anzügliche Grinsen für die Händlerinnen auf«, erwiderte Jade trocken. »Du schuldest mir ohnehin noch was für die Seile!«
Martyn wurde plötzlich ernst und betrachtete sie aufmerksam. Es war, als könnten seine lachenden Augen sogar die Schemen ihrer Gedanken hinter der Stirn erkennen.
»Was ist los mit dir?«, fragte er dann auch prompt. »Hast du heute Nacht ein Gespenst gesehen?«
»Schlimmer.«
Jetzt erlosch auch der letzte Rest seines Lächelns.
»Gestern ist etwas vorgefallen, als ich mit Lilinn auf dem Weg zum Markt war, ich muss dringend mit dir darüber reden und …«
»Martyn!«, brüllte Arif. »Steh nicht herum, los!«
Martyn sah sich nach seinem Bruder um und winkte ihm ungeduldig zu. Dann legte er die Hände auf Jades Schultern. Die Berührung war unendlich vertraut und beruhigend. Es war fast zu leicht, sich in Martyns wila-grünen Augen zu verlieren.
»Warte hier«, flüsterte er Jade zu. »Wir sind gleich fertig mit dem Ausladen, dann reden wir in aller Ruhe, ja?«
Jade nickte. »Warum seid ihr so früh schon mit einer Ladung unterwegs?«, fragte sie leise. »Woher kommen die Hunde und die ganzen Kisten?«
»Aus dem Nordland.«
Das Nordland! Jade klappte der Mund auf. Das Land hinter dem Eismeer, mindestens zehn Tagesreisen entfernt.
»Ein Schiff hat die Ladung und zwei Passagiere gestern westlich von der Mündung bei den roten Felsen abgesetzt.«
»Warum nicht hier?«
»Was weiß ich? Vielleicht hat es keine Genehmigung bekommen, in den Hafen einzulaufen. Jedenfalls haben ein paar Wächter uns mitten in der Nacht aus den Betten geholt und uns befohlen, Ladung und Leute abzuholen.« Er tippte an den gut gefüllten
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