Faunblut
Von einem Lampenhaken an der Decke hing ein langes Kleid aus taubenblauer Seide, das Jade als Kind in einer zerbrochenen Truhe entdeckt hatte. Der Staub von Jahrzehnten ließ den Stoff blass aussehen. Das Kleid war nicht das einzige Fundstück. Neben dem Bett lag ein Tagebuch, das Jade in den Trümmern eines Hauses in der toten Stadt gefunden hatte. Der lederne Umschlag war zum Teil versengt und die trockenen Seiten knisterten und rochen nach Rauch. Aus der Scheu heraus, die Geheimnisse eines Toten zu entweihen, hatte Jade das Tagebuch niemals gelesen, nur die ersten beiden Sätze kannte sie, und sie klangen so traurig, dass sie auch gar kein Bedürfnis verspürte, die Seite umzublättern und mehr zu erfahren.
Aufatmend ließ sie sich auf dem Deckenlager nieder und lehnte sich an die blaue Wand. Es war beruhigend, das Buch in die Hand zu nehmen und mit den Fingern über die Seitenränder zu streichen. Sobald sie die Augen schloss, sah sie das Echo und die Jäger, die ihre Gewehre direkt auf ihr Herz gerichtet hatten. Unwillkürlich drückte sie das Tagebuch gegen ihre Brust. Erst nach einer ganzen Weile klappte sie es auf und fand die Kostbarkeit, die zwischen den Seiten sorgsam verwahrt war. Das Buch selbst war ein Geheimnis, aber es barg noch einen weiteren Schatz, das Geheimnis im Geheimnis.
Es war eine alte Fotografie, ausgebleicht und so unscharf, als hätte jemand das Bild im Laufen aufgenommen. Viel konnte Jade darauf nicht erkennen: fliegendes schwarzes Haar am Rand des Bildes, glatt wie eine Mähne, die Ahnung eines hellen Gesichts und ein verschwommenes Lachen. Wie immer wenn Jade ihre Mutter betrachtete, an die sie sich nur vage als Stimme erinnerte, wurde ihr warm und traurig zumute.
»Ich wäre heute beinahe erschossen worden«, flüsterte sie dem verschwommenen Lachen zu. »Aber gestorben ist ein Echo. Und ich weiß, es klingt verrückt und falsch, aber an der Brücke, da … habe ich mir gewünscht, es … hätte fliehen können.«
Sonne und Mond
Sie hatte von Flussbildern geträumt – mehr als zehn Spiegelbilder ihrer selbst, die sie neckten und verspotteten – » Sinahe! «, riefen sie und schnitten Grimassen. Und da war auch diese Jägerin, die auf sie zielte, während Jade sich verzweifelt an einer Mauer festklammerte und versuchte, nicht abzustürzen. Mit einem Schrei war sie schließlich aufgeschreckt und brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass sie in Sicherheit war und im weißen Zimmer auf dem Bett lag.
In diesem Raum im zweiten Stock übernachtete sie gerne, weil er ein beinahe unversehrtes Bad und Fensterscheiben hatte. Regen klopfte gegen das Fenster und der Himmel war noch grau von der Nacht. Ich muss zu Martyn!, dachte sie und sprang, noch völlig benommen vom Traum, aus dem Bett. Auf dem Weg zum Bad wäre sie beinahe gestolpert. Gestern Abend hatte sie aus der Küche Wasser geholt, um sich den Schmutz von der Fahrstuhlwartung von den Händen zu waschen. Ölige Fingerspuren zeichneten sich am Krug ab, der neben der Badewanne stand, doch im Gefäß befand sich noch sauberes Wasser. Jade zog scharf die Luft ein, als das kalte Nass ihre Haut berührte, dann wusch sie sich energisch die Traumbilder von der Stirn.
Das Hotel schlief noch, es war so früh, dass noch nicht einmal Lilinn auf den Beinen war. Leise schlich Jade die Treppen hinunter, hinterließ auf der Kreidetafel neben dem Fahrstuhl eine Nachricht und schlüpfte durch die Seitentür auf die Straße.
Nieselregen fing sich in ihrem Haar, als sie mit dem Strom der Wila zum Hafen lief, vorbei an Fischerbooten und aufgespannten Netzen. Direkt am Wasser standen zwei vornehm gekleidete Männer – vielleicht Gäste eines Lords. Sie trugen bodenlange, mit Seidenschärpen gegürtete Gewänder und bestaunten eine Gruppe von schwarzen Trauerschwänen, die gegen die Strömung schwammen.
Die neuen Häuser in Hafennähe, die in den vergangenen Jahren aus dem Boden geschossen waren, schienen mit der grauen Farbe ihrer Fassaden mit dem Morgenhimmel zu verschmelzen. Jade beeilte sich, einen großen, am Wasser gelegenen Festplatz zu überqueren. Ganz von selbst war sie schneller geworden, bis sie schließlich rannte, ihre Sohlen schlugen auf den glatten Stein. Wie Schüsse , dachte sie.
Mochten die Straßen so frühmorgens noch leer sein, der Hafen an der Meeresmündung schlief nie. Jade liebte diesen Anblick: die befestigte Felsenkette, die in das verbreiterte Mündungsdelta des Flusses hineinragte wie ein steinerner Arm, der
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