Faunblut
der großen Kiste?«
Ein Lächeln breitete ein Fächernetz von Falten über sein Gesicht.
»Das fragen sie alle«, meinte er geheimnisvoll. »Und auch dir werde ich es nicht sagen – das ist nämlich ein ganz besonderes Mitbringsel aus dem Nordland. Und es wäre doch schade, wenn es die ganze Stadt wüsste, bevor es derjenige gesehen hat, für den das Geschenk bestimmt ist.«
»Aber es ist ein Raubtier, oder?«, beharrte Jade. »So etwas Ähnliches wie ein Bär vielleicht? Soll er in eine Menagerie gebracht werden?«
»Du gibst nicht so schnell auf, was?« Der Nordländer lächelte gutmütig. »Aber ich bin ebenso verschwiegen wie du hartnäckig. Und jetzt bringt die Kisten nach oben und lasst keine fallen.« Es klang eher wie eine Bitte als eine Aufforderung. »Aber kommt nicht auf die Idee, eine von ihnen zu öffnen, meine Schützlinge mögen klein sein, aber sie können viel Schaden anrichten.«
»Sie sind doch nicht etwa giftig?«, wollte Martyn wissen.
»Giftig nicht, nur ziemlich bissig«, sagte der Nordländer. »Und ihr wollt eure Augen doch sicher behalten, nicht wahr? Ihr erlaubt?«
Jade und Martyn traten zur Seite, um ihm den Weg zur Stiege freizumachen. Der Geruch von Tabak und Lederseife stieg Jade in die Nase. Und als der Fremde sich zwischen ihnen hindurchdrängte, spürte Jade Schneekatzenfell von seinem Ärmel über ihren Handrücken streichen. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Da waren sie – ganz nah: Ferne und Gefahr.
Auf halber Höhe der Stiege drehte sich der Fremde noch einmal zu ihnen um. »Eine schöne Stadt habt ihr da«, sagte er gut gelaunt und zwinkerte Jade zu. »Bei uns erzählt man sich viel darüber, und ich freue mich schon darauf, sie endlich selbst zu erkunden.«
*
Die Flussleute hatten eine Kette gebildet, die bei Jade und Martyn ihren Anfang nahm. Die Käfigkisten wurden von Hand zu Hand weitergereicht. Es war ein gespenstisches Gefühl, sie zu berühren. Manchmal hörte Jade so etwas wie gedämpftes Rascheln oder Kratzen, doch sobald sie den Käfig berührte, verharrte das Wesen darin, als würde es sich wachsam zusammenkauern und ebenso angespannt lauschen wie sie. Nur einmal spürte sie, wie das Holz in ihren Händen vibrierte – so als würde das Tier darin sich gegen die Wände seines Gefängnisses stemmen, und sie war froh, ihre Fracht weitergeben zu können.
Obwohl die Kisten nicht allzu schwer waren, dauerte es über eine Stunde, den Laderaum auszuräumen. Bald schon war Jade völlig außer Atem und ihre Arme und ihr Rücken schmerzten. Endlich war sie bei der letzten Kiste angelangt. Sie streckte sich und warf noch einen letzten prüfenden Blick in den hintersten Winkel des Laderaums. Normalerweise schliefen die Flussleute hier unten, und ohne die Hängematten und Trennwände war der Raum ungewohnt leer, nur in der Ecke befanden sich noch zwei Truhen.
Jade beugte sich zur Kiste und hob sie auf. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren Finger. Um ein Haar wäre ihr die Kiste aus den Fingern geglitten, doch im letzten Moment balancierte sie sie mit der rechten Hand aus und schüttelte die schmerzende Linke. Etwas Winziges, Nasses traf ihre Lippe.
»Was ist?«, rief Martyn.
»Nichts!«, gab sie unwillig zurück. »Ein Spreißel oder ein Nagel.« Ein salzig-metallischer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Der Tropfen, der ihre Lippe getroffen hatte – sie blutete! Und jetzt fühlte sie auch das warme Nass an ihrem Zeigefinger, der dumpf pochte. Ein kleines Stückchen Haut fehlte an der empfindlichsten Stelle der Fingerkuppe. Jade fluchte und drehte die Kiste vorsichtig so, dass sie die Rückseite betrachten konnte. Tatsächlich: Dort war ein Stück Holz herausgebrochen, aber die kleine Öffnung, nicht größer als ein Fingernagel, wies keine scharfen Kanten oder Späne auf. Wie konnte sie sich daran verletzt haben? Vorsichtig spähte sie durch den Spalt und prallte sofort zurück. Ein schwarzes Kristallauge fixierte sie angriffslustig.
»Kommen noch mehr?«, rief Elanor vom Oberdeck.
»Das ist die letzte«, gab Martyn zurück und nahm Jade die beschädigte Kiste einfach aus der Hand.
»Vorsicht! Die Kiste hat ein Loch!«
Doch Martyn hörte sie nicht, er lief bereits mit den anderen die Stiegen hoch. Schuhe schlugen einen unregelmäßigen Trommeltakt auf dem Deck.
Verwirrt und mit klopfendem Herzen blieb Jade zurück. Die Wunde war nicht tief, ein winziger Riss nur – vielleicht hatte sie sich doch am Holz verletzt? Sie steckte den
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