Faunblut
sicher auf dem Boden stand, sprang der Fremde vom Schiff und schritt zu dem hölzernen Gefängnis. Er war schlank und durchtrainiert und seine Bewegungen hatten etwas Katzenhaftes. Jade musste sich eingestehen, dass sie neugierig war, sein Gesicht zu sehen.
Als hätte seine Gegenwart die Leute ermutigt, wagten sie sich langsam wieder in die Nähe der seltsamen Fracht. Eilig lösten die Lastenträger die Seile und machten sich daran, die Kiste auf einen Wagen zu wuchten, der in der Nähe bereits wartete. Jade reckte den Hals, doch der Fremde trat hinter die Kiste und verschwand aus ihrem Blickfeld.
»He, Jade, steh nicht herum«, rief Arif ihr unwillig zu. »Mach dich nützlich und geh in den Laderaum! Wir brauchen jede Hand.«
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Auf Feynals Fähre war Jade beinahe so sehr zu Hause wie im Hotel. Schon als Kind hatte sie mit Martyn ganze Tage auf dem Fluss verbracht, aber noch heute verspürte sie, jedes Mal wenn sie die fließende Grenze zwischen Festland und Bootsdeck übersprang, von Neuem dieses Flirren in der Magengegend. Es fühlte sich nach Freiheit an und nach Unbekanntem. Sosehr sich Martyn danach sehnte, ein eigenes Schiff zu besitzen, so sehr sehnte sich Jade nach der Ferne.
Ohne sich festzuhalten, lief sie die steile Stiege zum Laderaum hinunter, übersprang die letzten Stufen – und hielt beim Anblick der unzähligen Kisten verblüfft inne. Der Laderaum, in dem sonst die Hängematten und Habseligkeiten der Flussleute untergebracht waren, war bis unter die Decke vollgestapelt.
»Das sind alles Käfige«, rief Martyn von der Luke über ihrem Kopf und kletterte ihr hinterher. Im Durchgang zwischen Laderaum und Stiege war es so eng, dass ihre Arme sich berührten. Jade genoss den Moment der Nähe.
»Was befindet sich in den Käfigen?«, fragte sie.
Martyn zuckte die Schultern. »Sie sagen es uns nicht«, murmelte er.
Jade versuchte, zwischen den Bretterritzen einer Kiste etwas zu erkennen, doch offenbar hatte der Konstrukteur genau darauf geachtet, dass kein Blick in das Innere fallen konnte. »Seltene Tiere aus dem Nordland vielleicht?«, überlegte sie. »Jakub hat erzählt, dort gibt es Wölfe, die nicht größer sind als Katzen.«
»Nach Wolfskrallen hörte sich das aber nicht an«, erwiderte Martyn. »Und Arif behauptet steif und fest, Fauchen gehört zu haben.«
»Und was ist in der großen Kiste, die draußen abgeladen wurde?«
»Ebenfalls ein Geheimnis. Ein Geschenk, mehr habe ich nicht herausfinden können.« Martyn senkte die Stimme. »Aber was es auch ist, ich will es gar nicht sehen – heute Nacht bin ich aufgewacht von den Lauten, die das Ding von sich gegeben hat. Ich sage dir, es hasst Wasser. Und ich wette, es hasst auch Menschen.«
Jade schluckte. »Und hat man euch wenigstens gesagt, was sie mit den Tieren wollen? Sind die Nordländer so etwas wie Gaukler?«
Ein tiefes Lachen erklang aus dem hinteren Teil des Laderaums.
»So etwas wie Gaukler, ja«, sagte eine freundliche, melodische Stimme. »Ich selbst würde mich allerdings eher als Sammler bezeichnen.«
Der Mann, der in den schmalen Gang zwischen den aufgestapelten Käfigen trat, passte viel besser zum Bild eines Nordländers als sein Begleiter oben, auch wenn ihm die Zöpfe und der Lederpanzer fehlten. Sein Filzhut war nass geworden und unter der Krempe zeichnete sich ein hageres, faltiges Gesicht mit einem akkurat gestutzten braunen Bart ab. Mit seinen hohen Wangenknochen wirkte er fremdartig und hart, aber er hatte freundliche samtbraune Augen, was Jade sofort für ihn einnahm – das und der abenteuerlich aussehende Mantel, der aus Streifen von unterschiedlichen Fellstücken zusammengesetzt war. Zum Teil war es gesprenkelter Robbenpelz, aber Jade entdeckte auch Fellstücke von Tieren, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
»Habt Ihr die Tiere alle selbst gefangen?«, hörte sie sich fragen. »Um sie abzurichten?«
Der Mann lachte wieder. »Sagen wir lieber, ich habe sie angelockt. Und sie folgen meiner Stimme, das ist im Nordland eine Kunst, die hoch geschätzt wird.«
Jade hatte gehört, dass es Menschen mit betörenden Stimmen gab, denen sogar Raubtiere gehorchten. Bei diesem Mann konnte sie sich diese Gabe mühelos vorstellen. Er sprach in einem sanften Singsang, und seine Stimme hatte, obwohl sie ein wenig rau klang, einen warmen, beinahe hypnotischen Klang. Doch auch die einschläfernde Melodie seiner Worte ließ Jade ihre wichtigste Frage nicht vergessen.
»Was ist in
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