Faunblut
und der Angst vor den Jägern.
»Vielleicht«, sagte sie leise.
»Vielleicht genügt nicht«, antwortete Ben streng. »Vielleicht klingt wie Verrat.«
Jade schnaubte und stand auf. »Und Verrat klingt wie Verstand. Ich glaube dir nicht mehr, dass du deinen wirklich ganz und gar verloren hast«, sagte sie zu dem Alten. »Und wenn es so ist, dann wirst du deinen Freunden erzählen, dass ich hier war. Dann richte ihnen auch Folgendes von mir aus: Sie sollen sich vor den Blauhähern in Acht nehmen. Sie fliegen tief und meistens im Schwarm mit einem Nordländer. Er lebt im Larimar, doch er dient der Lady und den Lords. Er ist gefährlich für euch. Die Lady erfährt von ihm alles, was die Vögel sehen. Also haltet euch dort auf, wo sie euch nicht entdecken.«
Bens Augen wurden groß. »Das klingt so, als wäre es viel mehr als nur vielleicht«, sagte er mit einem listigen Grinsen. »Ich habe zwar keine Ahnung, was du hier faselst und wem ich etwas ausrichten soll, aber du solltest in nächster Zeit darauf achten, ob du irgendwo Scherben siehst.«
*
Scherben. Ob das ein Erkennungsmerkmal war? Wenn, dann war es ungeschickt gewählt – die ganze Stadt war voller Scherben, kaum ein Fenster war heil geblieben. Sorgfältig umging Jade die Straßensperren und abgeriegelten Viertel und huschte auf Schleichpfaden in Richtung Hafen. In solchen Zeiten zahlten sich die vielen Ausflüge zum Schwarzmarkt aus. Sie kannte jedes Geräusch, jeden Laut und erahnte wie eine Blinde die Wege, die sie meiden musste. Als sie Stiefelschritte hörte, wich sie sofort aus, doch sie schob sich die Ärmel hoch, damit das Lilienzeichen für alle Fälle gut sichtbar war. Nach einer Weile fiel ihr ein, dass sie mit ihrem verhüllten Haar auf den ersten Blick wie ein Echo wirken könnte, und sie zog das Tuch vom Kopf. Dreh nicht durch , versuchte sie, sich zu beruhigen. Und dennoch schlug ihr Herz schneller. Der Prinz und die Echos.
Der Anblick der toten Stadt hatte ihr einen Schock versetzt, doch ebenso verstörend war der leere Hafen. Wie ernst die Lage war, erkannte Jade daran, dass kein einziges Handelsschiff mehr zu sehen war. Verwaist und nackt lagen die Molen und Anlegestellen in der Abenddämmerung im glatten Wasser. Sogar der Leuchtturm war erloschen. Dunkle Silhouetten zeichneten sich auf dem schmalen Rundgang ab, der sich um die Leuchtturmspitze wand. Wenn die Lady die Stadt für den Handel sperrte, dann war die Treibjagd nur der Anfang gewesen.
Jade zog die Jacke enger um die Schultern. Die Fähre der Feynals lag nicht vor Anker und war auch im Delta nicht zu sehen. Nur ganz weit draußen bewegten sich einige Punkte auf dem Wasser. Vielleicht kamen sie ja näher? Jade kauerte sich in einem sichtgeschützten Winkel neben einem Lastkran zusammen und wartete.
Mitternachtsaugen
Bei Tageslicht daran zu glauben, dass die Echos keine Bestien waren, war eine Sache. Bei Nacht war es etwas völlig anderes. Sie werden dich im Schlaf heimsuchen und erwürgen. Ständig kreisten Fauns Worte in ihrem Kopf. Sie werden dein Blut trinken und dich zerfleischen.
Die Fähre der Feynals war auch nach einer Stunde nicht aufgetaucht und Jade hatte für Martyn eine Kreidemarkierung auf dem Steg hinterlassen und sich enttäuscht wieder auf den Heimweg gemacht. Ihr Nacken kribbelte, als würde sie beobachtet, doch sooft sie sich umdrehte, sah sie nur leere Straßen. Kein Licht brannte weit und breit, vielleicht war der Strom endgültig ausgefallen? Die Dunkelheit spielte mit ihr, trieb sie vor sich her, gaukelte ihr Schritte vor, die ihr folgten oder vorausliefen. Die letzten Meter bis zum Larimar rannte sie, sprang mit rasendem Herzen zur Hintertür, öffnete sie mit zitternden Händen und schlüpfte hindurch. Unsanft stieß sie mit dem Fuß gegen einen Karton. In der Stille klang das leise Rumpeln wie Donner. Jade hielt erschrocken inne. Dunkle Gegenstände füllten den Flur. Wenn sie nicht noch einmal stolpern wollte, brauchte sie Licht. Mühelos fand sie die Zündhölzer und die kleine Öllampe auf der Fensterbank. Nur noch das letzte Restchen des Dochts war mit Öl getränkt. Die winzige Flamme flackerte schwach, doch das Licht genügte, um Jade zu zeigen, was für Hindernisse auf dem Flur standen: neue Kisten und Säcke mit Lebensmitteln. Die Lady sorgte immer noch gut für ihre Gäste.
Jade schlich zur Treppe und lauschte. Kein Laut war zu hören. Sogar die Gespenster schwiegen, zum ersten Mal seit sie denken konnte, war es totenstill im Larimar.
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