Faunblut
Gefühl der Wärme Platz machte.
»Lilinn?«, fragte sie. »Warum war es ausgerechnet Yorrik? Was hast du an ihm gemocht, wenn er so ein Lügner und Schuft ist?«
Lilinn ging zu dem Balken und hebelte energisch das Messer aus dem Holz. Vermutlich konnte Yorrik froh sein, jetzt nicht in der Küche zu sein. »Ich liebte sein Lachen … und seine Küsse. Am meisten aber liebte ich, so denke ich heute, das Gefühl, dass er mir so fremd war. Dass mir jede Sekunde mit ihm durch die Finger rann, dass nichts fest gefügt war und sicher. Dass er mich nur in dem Augenblick liebte, wenn er mich ansah.« Sie lächelte schief. »Ich bin süchtig nach dem Hoffnungslosen, wie du siehst.«
Du willst immer das am meisten, was du nicht haben kannst. Warum fiel Jade genau in diesem Moment dieser Satz ein, den Martyn einmal im Streit zu ihr gesagt hatte?
»Naja, wie du weißt, hat es sich nicht gelohnt«, schloss Lilinn. »Trau der Liebe nicht, sie bringt nur Unglück. Warum willst du das überhaupt wissen? Du hast doch nicht etwa Streit mit Martyn?«
Jade schüttelte nur den Kopf und zog sich das Stirnband, unter dem sie die kleine Schläfenwunde verbarg, tiefer in die Stirn. Die Wunden konnte sie unter langen Ärmeln und Tüchern verschwinden lassen, aber das Gefühl, dass ihr Zuhause entweiht und zerstört worden war, konnte sie nicht abschütteln. Und sobald sie an ihr Tagebuch dachte, das die Blauhäher beinahe zerstört hätten, war es wieder leicht, Tam und auch Faun zu hassen.
»Ich gehe zu den Feynals«, sagte sie und stand auf. »Wartet nicht auf mich, vielleicht übernachte ich auf der Fähre.«
»Geh am Fluss entlang«, rief Lilinn ihr hinterher. »Nicht durch die Stadt!«
Solange sie noch in Sichtweite des Larimars war, schlug sie die Richtung zum Hafen ein, doch zwei Seitenstraßen später bog sie ab und blieb im Schatten eines Türaufgangs stehen. Rasch zog sie ein größeres Tuch unter ihrer Jacke hervor und band es sich so um den Kopf, dass ihre Haare darunter verborgen waren. Dann wendete sie ihre helle Jacke, sodass das dunkle Futter nach außen zeigte. Wenn die Blauhäher sie auf der Straße erspähten, wollte sie zumindest die Chance haben, dass Tam sie nicht auf Anhieb erkannte. Dann trat sie auf die Straße und lief in Richtung Osten.
*
Früher hatten die Gräber der Herrscher und Reichen den flachen Hügel beim östlichen Stadttor geschmückt, doch heute glich die Schädelstätte eher einer Schutthalde. Splitter von Totenschädeln fanden sich zwischen den Trampelpfaden im Dornengestrüpp. Zähne knirschten im Kies unter Schuhen und bloßen Sohlen. Die Ruinen alter Grabmäler waren unter Efeu und Ackerwinden nur noch zu erahnen. Irgendwo jenseits der Mauer, die im Licht des Spätnachmittags einen langen Schatten warf, zirpten Zikaden. Jemand hatte Fischreste ausgekippt, die die streunenden Katzen über den Schädelplatz verteilt hatten. Es stank so erbärmlich in der Sonne, dass Jade würgen musste. Ein guter Treffpunkt, Ben , dachte sie missmutig und zog sich ein Stück Tuch über Nase und Mund.
»Ben?«, rief sie. Zwei Amseln flogen aus einem Dornenbusch auf, die Zikaden legten eine Pause ein, doch niemand antwortete. Jade überquerte den Platz, immer auf der Suche nach möglichen Verstecken. Doch Ben meldete sich nicht. Vielleicht hatte er sich irgendwo verkrochen und hörte sie nicht.
»Die Schädel hüten sich selbst«, murmelte Jade. »Aus Marmor besteht ihr Palast, stumme Glocken rufen zum Kampf.« Marmor also. Wenn sie richtig lag, fand sie vielleicht auf einem der Gräber einen Hinweis.
Zwischen Ranken und Gestrüpp entdeckte sie ein Stück einer verwitterten Inschrift. … im Leben … meinsam, im Tode ver …, entzifferte sie. Für einen Augenblick sank ihr der Mut, als sie an die Unmengen von Gräbern dachte.
Sie sah sich noch einmal wachsam nach den Blauhähern um, dann holte sie ein kurzes Messer aus ihrem Ärmel hervor und begann damit, Dornen und Gestrüpp zu zerhacken. Die Sonne brannte ihr auf Wangen und Stirn, und der Wind erzeugte seltsam klagende Töne, die Jade einen Schauer über den Rücken jagten. Dornen zerkratzten ihr die Beine, doch sie gab nicht auf. Ein ferner Pfiff ließ sie zusammenzucken. Sie spähte zum Osttor. Erst glaubte sie an eine Täuschung, doch dann erkannte sie eine Gruppe von Leuten. Sie konnte nicht sagen, ob es einfach nur Stadtbewohner oder Wächter waren. Aber dicht über ihren Köpfen kreiste ein Schwarm Vögel.
Jade fluchte. Auch wenn die Leute noch
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