Faunblut
Unwillkürlich wurde sie schneller und betrat die gewundene Treppe. Kühl glitt das Messinggeländer unter ihrer Handfläche dahin. Eingeschlossen in die winzige Insel aus Licht, die in dem Meer von Dunkelheit trieb, ging sie weiter. Das schmale Fenster, das am Fuß der Treppe zur Straße hinauswies, starrte sie wie ein helles, blindes Auge an. Sie hatte schon vergessen, dass es existierte, so oft war sie gedankenlos daran vorbeigelaufen.
In der Nähe des Fensters blieb sie stehen und verharrte im zitternden Lichtschein. Etwas Glänzendes lag auf der Treppe. Vorsichtig beugte Jade sich nach unten und entdeckte eine kupferne Haarspange in Form eines Sichelmonds. Sie musste Lilinn gehören. Jade bückte sich, um das Schmuckstück aufzuheben. Beinahe wäre ihr die Bewegung im Fenster nicht aufgefallen. Es war nur ein Flackern, der bloße Gedanke einer Regung, doch Jade hob den Kopf und blickte zum Fenster.
Ein Ungeheuer starrte sie an. Klauen hingen wie eingefroren in der Luft, als sei das Wesen zum Sprung bereit. Schwarze Haut, weiß glühende Augen. Fänge.
Jade schrie auf und prallte zurück. Im selben Augenblick verzog sich die schwarze Dämonenfratze. Kein Zweifel: Das Ding hatte Jade gesucht und gefunden. Das Maul klaffte in der Schwärze wie eine Wunde. Gefletschte Zähne glänzten auf, lang und gebogen und bereit zu töten.
Jade spürte kaum, wie ihr das Öllicht entglitt, und hörte nicht, wie es zerbrach. Jähe Dunkelheit umhüllte sie, und sie lief, lief und stolperte besinnungslos, ohne zu wissen, wohin. Sie fiel auf der Treppe und rappelte sich wieder auf, rannte und prallte plötzlich gegen etwas, das nachgab. Ein Körper, an den sie sich im Reflex klammerte und mit dem sie gemeinsam fiel. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und galoppierte dann so schnell los, dass ihr von einem Augenblick zum anderen siedend heiß und schwindlig wurde. Sie wollte aufschreien, doch die Wucht des Aufpralls nahm ihr die Luft. Nach Stein und Fäulnis riechender Teppichstaub fing sich in ihrer Nase. Warmer Atem strich über ihre Wange, Haar streifte ihr Gesicht. Arme lagen schützend um ihren Körper. Und dann erkannte sie auch den anderen, vertrauten Duft.
»Faun!«, brachte sie erstickt hervor. Vor Erleichterung hätte sie am liebsten geweint. Zusammengekrümmt lagen sie auf dem Boden vor dem Fahrstuhl, Körper an Körper – außer Sichtweite des Geschöpfs am Fenster.
»Da draußen …«, brachte sie tonlos heraus. »Am Fenster …«
»Ich weiß«, zischte er. »Du hast es angelockt. Es muss dir bis zum Haus gefolgt sein. Ich hatte dich doch gewarnt!«
Sie war zu benommen, um auf den Vorwurf zu reagieren. Sie konnte spüren, dass Faun zitterte und dass sein Herz ebenso schnell schlug wie ihres.
»Hast du es auch gesehen?«, flüsterte sie.
Ein Nicken.
»Was war das?«, wisperte sie.
Er schluckte. »Weißt du das nicht?«, fragte er heiser. Doch, sie wusste es. Die andere Art , dachte sie. Martyn hatte recht. Es muss mehrere Arten von ihnen geben.
Faun atmete tief durch und schien sich ein wenig zu beruhigen. Zum ersten Mal nahm sie seinen Duft in seiner ganzen Intensität wahr: Seine Haut roch nach Wald und Winter. Nach Moosen und Farn, und ein wenig auch nach Schnee. Es war ein Duft, der sie schwindlig machte und verwirrte. Einen Augenblick lang vergaß sie, dass sie Faun hassen sollte, und kämpfte gegen den Impuls an, sich einfach nur in seine Arme zu schmiegen und den Kopf an seiner Schulter zu vergraben.
»Aber jetzt ist es fort«, sagte er leise. »Du hast nichts mehr zu befürchten.«
»Woher weißt du das?«
»Sieh zum Fenster!«
Es kostete sie viel, sich vorsichtig aufzurichten. Faun lockerte den Griff, ganz ließ er sie jedoch nicht los. Mit klopfendem Herzen setzte Jade sich auf und lehnte sich nach vorne, bis sie um den Aufzug herumspähen konnte. Das helle Rechteck des Fensters war leer. »Und … wenn es wiederkommt?«, wisperte sie.
Faun schwieg und diese Antwort war erschreckend genug.
Jetzt weiß es, wo es mich findet , dachte sie. Natürlich wird es wiederkommen!
Sie konnte Faun nur als Schattenriss wahrnehmen – unwirklich, wie ein Traum. Sie war sich sicher, dass er sie in der Dunkelheit anstarrte. Die Vorstellung, dass das Ungeheuer in diesem Augenblick um das Larimar strich, brachte sie fast um den Verstand – aber in diese Angst mischte sich etwas anderes: die Sehnsucht, dass Faun sie nicht mehr loslassen sollte.
»Jade«, flüsterte er. Und plötzlich zog er sie an sich und
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