Feenkind
der in der Nähe floss, holte sie Wasser. Unterwegs entdeckte sie einen Busch wilder Johannisbeeren, dessen Blätter ein starkes, würziges Aroma verströmten, so dass sich aus ihnen ein schöner Tee zubereiten ließ. Bald blubberte der Tee fröhlich in dem kleinen Topf, den Dhalia über das Feuer gehängt hatte. Sie selbst kaute auf dem frischen Brot und kaltem Fleisch, das sie am Morgen aus der Küche mitgenommen hatte. Über die Verpflegung müsste sie sich keine Sorgen machen, bis sie Annubia erreichte.
Warm und gesättigt nippte sie anschließend an ihrem Tee und lauschte dem Knacken des Feuerholzes und den Geräuschen des Waldes. Das Gefühl der Geborgenheit, das ihr kleiner Unterschlupf vermittelte, ließ sie beinahe vergessen, dass sie noch niemals allein dort übernachtet hatte. Doch sie ließ sich von dem trügerischen Gefühl der Sicherheit nicht einlullen und legte sich den Bogen griffbereit und ihren Dolch unter die zusammengerollte Decke, die ihr als Kopfkissen diente, als sie sich schlafen legte.
Nachdem alle Vorbereitungen erledigt waren, kuschelte sie sich in ihre Decke und starrte in das Feuer, weil der Schlaf trotz ihrer Müdigkeit nicht kommen wollte. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, fühlte sie sich der Welt um sie herum, ob Mensch oder Tier, schutzlos ausgeliefert, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass ihr keinerlei Gefahr drohte. Schließlich presste sie ihre Augenlider trotzig ganz fest zusammen und zog sich ihre Decke über das Gesicht. Sie würde sich von ihrer Angst nicht beherrschen lassen.
Irgendwann wachte sie auf, weil sie Bruno unruhig schnauben hörte. Dhalia unterdrückte tapfer ihren ersten Impuls, von ihrem Lager aufzuspringen. Stattdessen öffnete sie nur die Augen und tastete nach ihrem Bogen. Einen Pfeil hatte sie am Abend zuvor schon vorsichtshalber quer über die Sehne gelegt. Als ihre Finger beides gefunden hatten, richtete sie sich langsam auf, darauf bedacht, heftige Bewegung zu vermeiden. Auf der anderen Seite des Feuers sah sie zwei große, leuchtende Augen aus der Dunkelheit zu ihr herüberstarren. Als sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, erkannte sie einen großen Wolf, der sie aufmerksam musterte. Sie spannte den Bogen und richtete den Pfeil direkt zwischen die leuchtenden Augen des Tieres. Sie wollte den Pfeil nur ungern loslassen, doch sie würde es tun, wenn sie es musste. Einige Augenblicke sahen sich Mensch und Tier direkt an, dann verschwand der Wolf wieder im Gebüsch. Anscheinend hatte er entschieden, dass es durchaus leichtere Beute für ihn gab. Erleichtert ließ Dhalia den Bogen sinken. Ihre Arme zitterten vor Anspannung. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Wölfe jagten in Rudeln, sie konnte also nicht wissen, wie viele gerade noch auf der Jagd waren, und auch nicht sicher sein, dass ihr nächtlicher Besucher nicht mit seinen Brüdern wiederkam. Müde wischte sie sich den Schlaf aus den Augen und blickte zu dem Stückchen Himmel hoch, das sie zwischen den Baumkronen über sich erkennen konnte. Die Morgendämmerung war nicht mehr weit entfernt. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und beschloss, in der Sicherheit ihres Sattels auf der Straße zu frühstücken.
Obwohl sie in ihrer ersten Nacht derart gestört worden war, war die junge Frau sehr stolz auf sich. Sie hatte den ersten Tag ihrer Reise erfolgreich überstanden. Ab jetzt würde ihr der Weg bestimmt leichter fallen.
Dhalia erreichte Annubia am Abend des zweiten Tages. Am liebsten wäre sie sofort zur Bibliothek geritten, doch sie beherrschte sich. Es war bereits spät und Kalla, eine der Bibliothekarinnen, die Dhalia fast mütterlich zugetan war, war bestimmt schon zu Hause. Und ohne ihre Hilfe würde Dhalia ohnehin nichts erreichen können.
Es war bereits fast ein Jahr her, seit Dhalia sie das letzte Mal besucht hatte, doch Annubia war eine alte Stadt, die sich nicht mehr so schnell veränderte. Und so fand Dhalia ohne Probleme ihren Weg durch die gewundenen engen Straßen zu Kallas Haus. Sie stieg ab und klopfte an die Tür.
Ein rundliches Frauengesicht schaute aus einem Fenster im oberen Stockwerk heraus und musterte überrascht die junge Frau, die so spät an ihre Tür klopfte. "Kann ich Ihnen helfen?" fragte sie neugierig.
Überrascht hob Dhalia den Kopf und blickte der älteren Frau direkt in die Augen. "Guten Abend, Kalla, erkennt Ihr mich denn nicht?"
Erkennen, freudige Überraschung und Besorgnis wechselten sich in Sekundenschnelle auf dem gutmütigen Gesicht
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