Feenland
rennt, bis er stehenbleiben muß, verzweifelt bis ins
Herz, mit stechenden Lungen. Sinnlos, sich zu verstecken, aber er
beschließt, die Algerier zu besuchen, die seit einem Jahr
draußen in einem der ausgetrockneten Seenbecken leben.
Sie hausen in dem U-Boot, das für immer in seiner Schiene
steckengeblieben ist. Mit seinen Fensterreihen zu beiden Seiten
erinnert es im Grunde eher an eine U-Bahn als an ein U-Boot, obwohl
es echte Sägezahnflossen und einen Kommandoturm samt Periskop
besitzt. Aus irgendeinem Grund hatten es die vorigen Bewohner, eine
Horde alternder Raver, gelb angestrichen. Sie leben nicht mehr hier,
seit sie beim Feenvolk in Ungnade gefallen sind. Aber Armand findet,
daß das U-Boot lustig aussieht, eine Tropenfrucht, die sich in
das kleine Bassin schmiegt, inmitten von bleichen Gipskorallen,
unechten Riesenmuscheln und Plastik-Seetang.
Es beherbergt etwa ein Dutzend Algerier, obwohl nie alle
gleichzeitig da sind. Wie die meisten, die unter dem Bann des
Feenvolks stehen, gehören sie zu den Randgruppen. Vom
staatlichen Standard-Einkommen ausgeschlossen, überleben sie mit
Hilfe des Roten Kreuzes und der eigenen Erfindungsgabe. Die Algerier
machen Schmuck aus Kupfer- und Stahlabfällen, die sie im Magic
Kingdom-Erlebnispark außerhalb der Stadt sammeln, und verkaufen
ihn im Zentrum, obwohl das natürlich nicht der wahre Grund
für ihren Aufenthalt in der Stadt ist. Sie sind berührt,
verändert. Sie stehen jetzt auf der Seite des Feenvolks.
Manchmal dürfen sie eine oder zwei Frauen bei sich
aufzunehmen, aber nie für sehr lang. Sie sagen wehmütig,
daß es nicht genug Frauen gibt, weil in ihrer Heimat Jungen
bevorzugt werden. Es geht gegen Allahs Gebot, das Geschlecht eines
Kindes im voraus zu bestimmen, aber jeder tut es, so ist das nun mal.
Dennoch sind sie glücklich. Der Zauber des Feenvolks zwingt sie,
glücklich zu sein. Sie basteln ihren Schmuck, rauchen Kif, haben
einen Fernseher, dessen Programme über den Satelliten Saudi
Makkah II ausgestrahlt werden, oder hören im Radio die
Rai-Sänger, die ihre Stimmen in die Höhe schrauben und
verdrillen wie feinen Silberdraht. In manchen Nächten schlagen
die Algerier ihre Trommeln, stundenlang, und ihre scheckigen Hunde
heulen dazu, bis der verlassene Erlebnispark von dem Lärm
widerhallt.
Die Algerier nehmen Armand auf, bewirten ihn mit Linseneintopf aus
einem ständig am Herd blubbernden Kessel und servieren ihm in
einer winzigen Kupferschale starken, süßen Mokka. Armand
hat gelernt, die Schuhe auszuziehen, ehe er den engen Wohnraum im
Innern des U-Boots betritt, nur mit der rechten Hand zu essen, den
Kaffee laut zu schlürfen, um seinem Behagen Ausdruck zu
verleihen, und immer mehr als eine Tasse zu trinken, selbst wenn ihm
nicht danach zumute ist. Er kommt schließlich als Gast und
sollte sich entsprechend benehmen. Das kostet ihn nichts, und die
Algerier wissen es zu schätzen.
Armand hatte eine Zeitlang einen besonderen Freund unter den
Algeriern – Hassan, den jüngsten, mit seinen traurigen
braunen Augen und dem dichten, herunterhängenden Schnauzbart. Es
war Hassan, der dahinterkam, daß Armand in der Fremdenlegion
gedient haben müsse – der rote Punkt auf Armands Handgelenk
ist ein Militärausweis-Chip. Hassan, ein begeisterter
Elektronikbastler, las die Chipdaten mit einem umgebauten
Supermarkt-Scanner in den Minicomputer der Algerier ein. Aber die
meisten Informationen waren geschützt; das einzige, was der Chip
preisgab, war Armands Geburtstag und Geburtsort. Er stammt aus der
Nähe von Lyon, aus einer kleinen Stadt namens Chambéry.
Er hat keinerlei Erinnerung daran. Und er ist genauso alt wie das
neue Jahrtausend, eines der Mitternachtskinder. Obwohl, wie Hassan zu
verstehen gab, das wahre Millennium noch fast fünfhundert Jahre
entfernt ist, betrachten die Algerier dieses Zusammentreffen als ein
gutes Omen. Das und vielleicht auch Armands Höflichkeit
trägt dazu bei, daß sie ihn tolerieren. Hassan meinte,
wenn er bessere Dechiffrier-Möglichkeiten hätte,
könnte er noch mehr Details herausfinden – aber dann
verschwand Hassan.
Hassan fehlt Armand sehr. Es ist nicht gut, im Magic Kingdom
Freundschaften zu schließen, denn die Leute kommen und gehen so
schnell, aber Hassan fehlt ihm auch deshalb, weil Armand mehr
über sich selbst in Erfahrung bringen möchte. Er weiß
fast nichts von seinem Leben vor dem Magic Kingdom. Er erinnert sich,
daß er sehr krank war. Daß er hier lebte. Daß die
Frau kam, die Zwillinge
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