Feenland
hast geträumt«, wiederholt Morag. »Ich
bringe dich zurück zu deiner Mutter.«
»Zu meinem Vater«, widerspricht die Kleine energisch.
»Und zu Gabriel.«
»Komm, wir suchen sie!« Morag nimmt die warme, klebrige
Hand des Mädchens.
Ein junger Mann mit kurzgeschorenem Haar sitzt auf einer
umgedrehten Kiste, den Kopf in den Nacken gelegt, den Blick in
unendliche Fernen gerichtet. Als Morag und das kleine Mädchen in
sein Gesichtsfeld kommen, sagt er verzückt: »Sie sind da.
Ich habe ihre Lichter gesehen.«
Das kleine Mädchen führt Morag in eine niedrige,
höhlenartige Hütte. Vor dem Eingang steht eine Art
Handwagen mit einem Stapel säuberlich gefalteter Kartons. Im
Innern schläft der Vater der Kleinen in einem Nest aus
Pappschachteln. Er ist voll bekleidet. Nicht einmal die Stiefel hat
er ausgezogen; Fußbrand ist in den Bidonvilles weitverbreitet.
Ein pausbäckiger kleiner Junge in einem zerlumpten grauen Jumper
kuschelt sich in seine Armbeuge.
Morag weckt den Mann. Er ist betrunken oder high und weiß
kaum, wo er sich befindet, aber er gibt ihr bereitwillig seine
Ausweiskarte. Er muß sie täglich mindestens ein Dutzendmal
herzeigen, manchmal sogar öfter, wenn die Bullen
beschließen, den Recyclern das Leben schwerzumachen, weil sie
sonst nichts zu tun haben.
Morag schiebt die Karte durch ihr Lesegerät und erfährt,
daß das kleine Mädchen Grace heißt; Gabriel, der
Junge, ist ihr Zwillingsbruder. Es handelt sich um
Tutsi-Angehörige, die nach dem vorletzten Staatsstreich aus
Burundi geflüchtet sind. Die Mutter der Kleinen starb letztes
Jahr. Morag bettet das Mädchen neben ihren Vater und Bruder und
deckt sie bis ans Kinn zu.
Die Kleine schaut mit großen, ernsten Augen zu ihr auf.
»Sie wollten mich mitnehmen«, wispert sie trotzig.
»Wer, Liebes?«
»Die Feen.«
Morag lächelt. »Das hast du nur geträumt,
Liebes.«
»Sie sahen wie Affen aus.« Die Kleine gähnt und
entblößt weiße Milchzähne, umgeben von rosa
Zahnfleisch. »Zuerst schickten sie Ratten her. Kleine
weiße Ratten.«
»Dann hast du wirklich geträumt, Liebes. Es gibt hier
keine weißen Ratten. Schlaf jetzt weiter!«
Und träum von putzigen weißen Ratten mit flinken roten
Äuglein, süßen rosa Näschen und winzigen
Pfötchen. Träum etwas Schönes!
Morag und Jules treffen sich eine Stunde später in einer
Hütte am anderen Ende des Viertels. Jules, ein lockerer
Algerier, der eben erst das Medizinstudium hinter sich gebracht hat,
näht die Kopfwunde des Hüttenbesitzers – ein alter
Schwarzer, der sich einbildet, er hätte einst die Welt regiert.
Wahnvorstellungen dieser Art sind die Folgen eines Fembots, das im
letzten Jahr gehäuft auftrat.
Der Alte sitzt auf einem Flechtstuhl und blättert in einer Vogue, während Jules im Licht der kleinen Stablampe, die
in seinem Stirnband steckt, die Wunde mit engen, sauberen Stichen
schließt. Er legt Wert darauf, keine Narben zu hinterlassen.
Das ist bei ihm eine Frage der Ehre. Die Stimmen der Werbung wispern
und locken, als der alte Mann in den Seiten des Heftes herumraschelt.
In der Hütte liegen ganze Stapel solcher
Hochglanz-Zeitschriften, dazu dicke Packen flachgedrückter, mit
leuchtend blauem oder gelbem Nylonband verschnürter Folien.
Abgesehen von dem Stuhl gibt es nur noch ein Bett – eine
verzogene Sperrholzplatte auf Schlackesteinen – und einen von
der Decke hängenden Fernseher ohne Ton, der die jüngsten
Bilder der Mars-Expedition zeigt. Der langgestreckte Pfeil des
Raumschiffs, der in einer Tangente über der rußigen
Phobos-Oberfläche hängt; eine Aufnahme des rosa
getönten, narbigen Mars-Antlitzes; eine hagere Frau mit
kurzgeschnittenem Haar, die im Coverall vor einem Instrumentenbord
sitzt und im Zeitlupentempo in die Kamera winkt. Der Plastikschirm
des Fernsehers ist stark verkratzt, und farbige Lichtbänder
säumen alles, was sich bewegt.
Aus dem gammeligen Radiogerät, das sich in den Falten des
zerknitterten Schlafsacks auf dem Bett versteckt, tönt eine Art
Rai-Musik. Der alte Mann wippt mit den Füßen im
Fünfachtel-Rhythmus, ohne ein einziges Mal aus dem Takt zu
geraten; für ein paar Münzen trommelt er manchmal neben dem
Metro-Eingang von Les Halles komplexe Rhythmen auf einem alten
Pappkarton.
Morag hütet sich, auf dem Bett Platz zu nehmen – die
Läuse warten nur darauf – und kauert sich statt dessen im
Eingang nieder. Sie bräuchte dringend einen Schluck Kaffee aus
ihrer Feldflasche, aber da der Inhalt nicht mehr reicht, um ihn
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