Fehlschuss
brauche?“
„Ich versuche, seit gestern Abend, mit dir darüber zu reden.“
„Ich war im Labor. Du hättest mir eine Nachricht hinterlassen können.“
Die Wischerblätter quietschten über die Windschutzscheibe. Mit einer
wütend wirkenden Bewegung ließ er den Hebel in die „Aus“-Position schnappen.
„Ich wollte mit dir reden, nicht mit deinem Anrufbeantworter!“, versuchte er
sich zu rechtfertigen.
Aber sie schien seine Worte gar nicht aufzunehmen. „Verdammt!“, rief
sie aufgebracht. „Sie holen mich ab, sie fragen mir Löcher in den Bauch, ob ich
vielleicht auch bi bin und ein Verhältnis mit Inge hatte. Sie zeigen mir Bilder
von dieser Tönnessen da im Wald, sie graben Geschichten aus, die zwanzig Jahre
her sind. `Wo waren Sie am Freitag, Frau Berndorf? Und die Tage davor? Sind Sie
sicher, dass Sie Ingeborg Lautmann Ende April zum letzten Mal gesehen haben?´ —
Gott, ist das zum Kotzen!“
Ihre Worte waren eine einzige Verurteilung. Und irgendwie hatte Chris
das Gefühl, dass er mit auf der Anklagebank saß. Er befand sich plötzlich
zwischen allen Stühlen. Auf der einen Seite Susanne, die tat, was sie tun
musste, auf der anderen Seite Karin, die Loyalität und Verständnis erwartete.
„Du musst doch gewusst haben, dass sie die alten Akten ausgraben
würden!“ Chris gelang es nicht, den vorwurfsvollen Ton zu unterdrücken, die
Kränkung, dass er als letzter davon erfahren hatte. „Du hättest mit mir darüber
reden sollen!“
„Und? Was hätte das geändert?“
„Nichts“, gab er zu.
„Einmal muss doch Schluss sein mit der Geschichte“, sagte Karin
bitter. „Wieso können die mich nicht in Ruhe lassen?“
„Sie mussten das tun, Karin. Es gab …“
„Sag mal, auf welcher Seite stehst du eigentlich?“, wurde er scharf unterbrochen.
„Zum Teufel noch mal! Es macht mich genauso wütend wie dich, dass du
das jetzt mitmachen musst. Aber das Leben ist nun mal kein Kokon aus Friede,
Freude, Eierkuchen! Manchmal passieren eben Dinge, die einem nicht ins Konzept
passen!“ Die Worte waren ihm über die Zunge gerollt, ehe er etwas dagegen tun
konnte.
„Was du nicht sagst!“, schnaubte Karin. „Und die Polizei tut nur ihre
Pflicht. Schließlich hat die Berndorf ja schon mal zugeschlagen!“ Mit Schwung
drückte sie die Wagentür auf. „Vielen Dank für die Belehrung, Doktor Sprenger!“
Sie war schneller aus dem Auto, als er für möglich gehalten hätte. Als
die Tür zuschlug, hatte er das Gefühl, sein Herz würde in tausend Stücke
zerspringen.
Wie versteinert saß er da, die Hände um das Lenkrad gekrampft und
spürte — nichts. Irgendwann fand er sich in einem Parkhaus unterhalb des Doms
wieder und wusste nicht, wie er dort hingekommen war und was er dort sollte. Er
wusste nur, dass er alles hätte sagen dürfen, nur nicht das mit dem Kokon.
Nicht zu Karin, nicht in dieser Situation.
Er trug das Herz auf der Zunge, ja, das wusste er. Aber warum,
verdammt noch mal, immer im falschen Moment? Er hätte mitfühlend sein müssen,
verständnisvoll. Stattdessen benahm er sich wie ein Elefant im Porzellanladen
und gab saudumme Weisheiten von sich. Wenn jemand wusste, dass das Leben kein
weiches Daunenkissen war, dann Karin.
„Na gut, Sprenger“, begann er ein Selbstgespräch, „was ist denn
großartig passiert? Du hast dich in eine Frau verknallt, die du drei Mal
gesehen hast. Die nur auf Affären steht. Du hast dich auf einen heftigen Flirt
eingelassen und Punkt. Nicht mehr und nicht weniger! So schlimm ist das nun
auch wieder nicht. Du kannst nichts verlieren, was du noch gar nicht gehabt
hast. Also mach deinen Job und Schluss damit!“
Er brach ab, weil ihm ein älterer Herr mit Hut, der gerade in den
Wagen neben ihm steigen wollte, merkwürdige Blicke zuwarf. Es war ja auch zu
lächerlich: Ein unrasierter Typ, mutterseelenallein im Auto, der vor sich hin
brabbelt. Klasse, Sprenger! Mach nur weiter so!
Er hätte ins Büro fahren müssen, zumindest aber die Nixe anrufen,
fragen, ob es irgendetwas von Belang gab. Aber dazu brachte er nicht die Kraft
auf.
Er holte die Regenjacke aus dem Kofferraum und lief hinunter zum
Rheinufer. Bei schönem Wetter flanierten hier Tausende von Menschen, saßen in
der Sonne oder warteten auf die kleinen Rundfahrtschiffe. Jetzt war Chris
beinahe allein. Abgesehen von ein paar Möwen, die auf der Kaimauer saßen und
sich putzten. In Höhe des Pegelhäuschens blieb er eine Weile stehen. Aber er
sah weder die weißen Ausflugsdampfer, die an
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