Fehlschuss
Präsidium sein Gebrüll mit angehört.
„Was ist los mit dir, Chris?“ Die Kommissarin blieb neben ihm stehen
und sah ihn aufmerksam an. „Immer wenn es um Karin Berndorf geht, wirst du zum
Löwenmännchen, das sein Rudel …“ Sie brach ab und pfiff durch die Zähne.
„Ach, so ist das“, stellte sie dann fest, und ihre Stimme wurde
weicher als Chris je für möglich gehalten hätte. „Ernsthaft?“
Er biss sich auf die Lippen.
„Willst du raus aus der Sache?“
Heftig schüttelte er den Kopf. Er war Strafverteidiger, und er war ein
Profi. Also keine Gefühle. Bloß keine Gefühle jetzt.
„Chris, nochmal: Sie ist als Zeugin hier, nicht als Verdächtige. Unser
Seelenklempner hat sich ein bisschen mit ihrer Vergangenheit beschäftigt und
meint, dass sie als Racheengel nicht taugt. Und dass sie jemanden beauftragt,
dem sadistische Quälereien Befriedigung verschaffen, glaube ich ebenso wenig.
Selbst getan haben kann sie es auch nicht.“ Sie zählte an den Fingern ab. „Als
Lautmann gefoltert wurde, war deine Karin nachweislich an den Plöner Seen, und
vorgestern Nacht, als Tönnessen starb, war sie betrunken, sagt sie. Und das
glaube ich ihr. Sie ist eine Zeugin, die wir ein weiteres Mal befragt haben,
nichts weiter. Reicht dir das?“
Als sie keine Antwort erhielt, setzte sie mit Nachdruck hinzu: „Ich
muss dem nachgehen, das weißt du!“
Und sie wie eine Verbrecherin gleich hierher schleppen?, dachte er
wütend. Sie treffen bis ins Mark? Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung,
nicht noch einmal über seine Freundin herzufallen.
Susanne stöhnte auf. „Okay, mit dir ist heute nicht zu reden. Du
kannst dem Steuerzahler ein paar Kosten sparen und sie nach Hause bringen.
Sonst muss ich Hellwein schicken. Sie ist im Vernehmungsraum.“
Ausgerechnet! Chris kannte dieses winzige Zimmer. Die Wände waren
grau, und außer ein paar Stühlen und einem Resopaltisch mit unzähligen
Brandlöchern gab es dort nichts. Es war nicht nur für einen so feinfühligen
Menschen wie Karin bedrückend und entmutigend, dort eine Weile verbringen zu
müssen.
Er steuerte wortlos auf die Tür zu, als Susanne ihn zurückhielt.
„Moment noch! Was ist mit dem Einbruch?“
„Hat sie …?“
„Sie hat. Also?“
Kurz zählte er die Fakten auf, die sich offensichtlich mit der Aussage
von Karin deckten, weil Susanne immer nur zustimmend nickte.
„Du hättest mit mir darüber reden sollen.“ In ihrer Stimme war weniger
Vorwurf als er erwartet hatte. „Aber lassen wir das jetzt. — Was hältst du
davon?“
„Wenn es kein Zufall ist, dann frage ich mich, was diese drei Frauen
miteinander verbindet.“
„Das frage ich mich auch“, gab Susanne zu. „Was Lautmann und Tönnessen
verbindet, wissen wir. Glauben wir jedenfalls zu wissen.“ Sie schüttelte den
Kopf. „Deine Karin passt da überhaupt nicht rein. Also doch Zufall?“
„Glaubst du an Zufälle?“, schnaubte Chris.
Susanne schwieg. Aber das war Antwort genug.
Als sie ins Vernehmungszimmer traten, hatte Karin offenbar gerade ihre
Aussage unterschrieben. Jedenfalls steckte Hellwein ein paar bedruckte Blätter
in eine dünne Mappe. Er trug einen nachtblauen, leicht glänzenden Sommeranzug.
Und obwohl es in dem kleinen Raum heiß und stickig war, hatte er noch nicht mal
die Krawatte gelockert.
Karin blickte auf und sah Chris stumm an. Die Kiesel wirkten dunkel
und drückten eine Mischung aus Wut und Trauer aus. Ihr rotes Polohemd war unter
den Achseln vom Schweiß dunkel gefärbt.
Irgendetwas zog sich in Chris zusammen.
„Doktor Sprenger fährt Sie nach Hause“, brach Susanne das Schweigen
und schaffte es, mit diesem „Doktor Sprenger“ Distanz zu vermitteln, ihn aus
dem Kreis, der Karins Leben auseinander nahm, auszuschließen. Hoffte er
jedenfalls.
Er wurde schnell eines Besseren belehrt. Die ganze Fahrt über sagte
Karin kein Wort. Sie saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz, und er
konnte die Mauer, die sie um sich herum aufgebaut hatte, beinahe sehen. Er
hatte keine Idee, wie er diese Barriere aufbrechen sollte. Wie er ein noch so
winziges Loch schaffen konnte, um das Bollwerk zu durchdringen. Also schwieg
auch er, konzentrierte sich auf den Verkehr und bemühte sich, seine eigenen
Gefühle unter Kontrolle zu bringen, die so trüb waren, wie die Regenschleier
über dem Asphalt vor ihm.
Erst als er vor dem großen alten Haus am Klettenbergpark hielt,
platzte Karin heraus: „Ist es schon so weit, dass ich einen Anwalt
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