Fehlschuss
den Anlegern dümpelten, noch die
langsam treibenden Wolken, die tief über dem Fluss hingen. Er starrte einfach
auf das braune Wasser. So weit weg mit seinen Gedanken, dass er nicht hätte
sagen können, wo sie denn waren.
Irgendwann stieg er die Stufen zur Philharmonie hoch und spielte kurz
mit dem Gedanken, in den Carrebean Club zu gehen. Aber Theos unerschütterliche
Fröhlichkeit hätte er nicht ertragen, und nach einem Essen war ihm schon mal
gar nicht.
Der Anblick des Doms lenkte ihn kurzfristig ab. Er konnte sich nie
entscheiden, ob er ihn nun „wuchtig“, überwältigend“, „monumental“ oder einfach
nur „schön“ finden sollte. Imposant war er allemal. Chris legte den Kopf in den
Nacken und versuchte, die vielen kleinen Kreuzblumen über den Fialen zu zählen.
Es gelang ihm natürlich nicht, und als sein Genick steif wurde, gab er auf.
Vor dem Dom-Hotel wurde er fast von ein paar Jugendlichen umgerissen,
die auf ihren Inlines vorübersausten. Am Eingang der Hohe Straße saß ein
Straßenmusikant und fiedelte die „Kleine Nachtmusik“. Chris hörte ein paar
Minuten zu und schlenderte dann durch die Fußgängerzone. Musste tropfenden
Regenschirmen ausweichen und einem Typen, der mit dem unvermeidlichen „Hasse ma
´n Euro?“ genau auf ihn zusteuerte. Ab und an blieb er vor dem Schaufenster
einer Buchhandlung oder eines Kaufhauses stehen, aber er nahm nichts richtig
wahr. Außer der Uhr, die ihm alle paar Minuten sagte, dass es immer noch nicht
Zeit war, zu seiner Mutter zu fahren. Zeit totschlagen nennt man das wohl.
Als es endlich so weit war, dachte er sogar daran, einen Strauß gelber
Nelken zu kaufen, die Luise so liebte. Seine Mutter ließ auch gleich die Nase
in den Blüten verschwinden, als Chris sie ausgewickelt hatte.
Anerkennend musste er zugeben, dass sie in dem weit ausgeschnittenen
rosafarbenen Top wirklich nicht aussah wie fünfundsechzig. Dazu trug sie einen
eng anliegenden eisgrauen Rock. Ihre Beine waren mindestens so lang wie die von
Heidi Klum, und das betonte sie noch durch hochhackige Pumps.
„Du siehst schlecht aus, Kind!“, stellte Luise fest, als sie Kaffee
einschenkte.
Kind! Wahrscheinlich konnte er hundert werden und würde doch immer
„Kind“ bleiben. Er erinnerte sich an die Beerdigung einer Kollegin vor ein paar
Jahren. Neunundsechzig war sie geworden, und ihre zweiundneunzigjährige Mutter
stand am Grab und rief immer wieder: „Mein Kind! Mein Kind!“
„Ich hatte eine schlimme Woche“, antwortete er so lässig wie möglich.
Hatte er das nicht auch schon Tinni vor ein paar Tagen gesagt?
Luise lud ihm ein Stück Käsekuchen auf den Teller, und Chris bemerkte
an ihrem Mittelfinger einen großen Aquamarin, eingefasst in fein ziseliertes
Gold.
„Oh — Hans-Dieter?“
Seine Mutter streckte die Hand aus, betrachtete den Ring und seufzte.
„Ach — er ist richtig nett, weißt du! Er will eine Amerikareise mit mir
machen.“
„Ist doch toll!“
„Ist es nicht!“, sagte sie streng. „Er will meinen Pass haben, um das
Visum zu beantragen.“
„Deinen Pass? Na und?“ Plötzlich dämmerte es ihm. „Oh, Mama, du hast
doch nicht wieder …?“
„Natürlich habe ich!“, gab Luise entrüstet zurück und machte sich mit
Appetit über ihren Kuchen her.
„Wie viel?“
„Sechsundfünfzig!“, nuschelte sie mit vollem Mund.
„Mama! Stell dir vor, du willst noch mal heiraten. Da wird dein Alter
zwangsläufig herauskommen. Wie soll das …?“
„Ich will ja gar nicht noch mal heiraten!“, wurde er patzig
unterbrochen. Und dann: „Du hast Liebeskummer, stimmt´s?“
„Mama, bitte!“
„Lüg deine Mutter nicht an! — Ist sie nett?“
Chris überlegte kurz. „Eher ungewöhnlich“, antwortete er dann. Was
würde wohl passieren, wenn Luise und Karin einander kennen lernten, überlegte
er. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie würden sich lieben
oder aber abgrundtief hassen. Irgendetwas dazwischen schien unmöglich. Aber so,
wie die Dinge jetzt standen, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich jemals
begegneten, relativ gering.
„Und jetzt habt ihr euch gestritten?“, bohrte seine Mutter weiter.
„So … kann man es nennen, ja.“ Er schob seinen Teller zurück. Kaum
zwei Bissen hatte er heruntergewürgt. Karin war ihm auf den Magen geschlagen,
eindeutig.
„Warum?“
„Mama!“
„Warum?“
Er gab auf. „Man hat sie wegen eines abscheulichen Verbrechens
verhört. Und das nur, weil sie vor zwanzig Jahren mal
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