Feind in Sicht
nackt am Schreibtisch und rasierte sich hastig vor dem Spiegel, der vor ihm stand.
»Ja. Sind von der
Telamon
noch keine Befehle gekommen?«
Inch sah Bolitho mit großen Augen zu, der sich heftig das Gesicht abwischte und dann ein frisches Hemd überstreifte. Bolitho war noch nicht einmal fünf Stunden wieder auf seinem Schiff, hatte sich kaum Zeit zum Essen genommen, gar nicht zu reden von einer Ruhepause.
»Nichts, Sir«, antwortete Inch.
Bolitho ging zu den Heckfenstern und starrte auf die in weiter Ferne liegende, verschwommene Küstenlinie hinaus. Auf Backbordbug liegend, kamen die Schiffe nur langsam vorwärts; als er nach der hinter ihnen segelnden
Hermes
ausblickte, sah er ihre schlappen, fast unbewegten Segel und ihren überm schwankenden Spiegelbild schimmernden Rumpf.
Er hatte erwartet, daß Pelham-Martin seine Kommandanten zu einer Besprechung auf die
Telamon
rufen oder einen Glückwunsch an das erschöpfte Landkommando schicken würde. Statt dessen war nur das Signal ›Anker lichten‹ gehißt worden, und nach einer weiteren, an den Nerven zerrenden Verzögerung hatten von der
Hermes
Boote abgelegt. Sie waren bis zum Dollbord mit Menschen beladen und hatten sofort Kurs auf die
Hyperion
genommen.
Mit den Booten kam Leutnant Quince, der berichtete, daß das Landkommando der
Hermes
das Gefängnis in Las Mercedes gefunden und daraus über sechzig englische Seeleute befreit hatte. Kapitän Fitzmaurice schickte fünfzig dieser Leute zu Bolitho, um seine Besatzung zu ergänzen. Aber Quince war auch gekommen, um sich zu verabschieden. Pelham-Martin hatte ihn mit dem Kommando über die schwer beschädigte
Indomitable
betraut: er sollte sie nach dem rund sechshundert Meilen entfernten Antigua bringen. Die Werftanlagen dort genügten, um das Schiff soweit zu reparieren, daß es zu der dringend erforderlichen gründlichen Überholung nach England überführt werden konnte.
Bolitho war an Deck gegangen, um zu beobachten, wie das tiefliegende Schiff sich langsam vom Geschwader entfernte. Der mit Einschüssen übersäte Rumpf und das laute Klappern der Pumpen verrieten deutlich, welche Mühe es kostete, das Schiff über Wasser zu halten. Kein Wunder, daß es beim letzten Angriff auf Las Mercedes nicht mitgewirkt hatte. Bei der nächsten Breitseite wäre es wahrscheinlich gekentert und gesunken.
Gut zu wissen, daß Quince für seinen unermüdlichen Einsatz den verdienten Lohn erhalten hatte. Als Bolitho der
Indomitable
nachblickte, die mit ihren zerfetzten Segeln und zersplitterten Maststengen die Leiden und Todesqualen symbolisierte, die sich in ihrem Rumpf abgespielt hatten, mußte er unwillkürlich an Winstanley denken und wie glücklich es ihn gemacht hätte, sein Schiff in so guten Händen zu wissen. Jetzt aber segelten sie wieder nach Osten, ohne anscheinend einen Gedanken daran zu wenden, den beiden französischen Schiffen nachzujagen, die bei dem Angriff entkommen waren; und ohne den geringsten Hinweis darauf, was Pelham Martin als nächstes zu unternehmen beabsichtigte.
Quince hatte bei seinem kurzen Besuch gesagt: »Es hat den Anschein, daß unser Kommodore mit dem Ergebnis sehr zufrieden ist, Sir. Zwei französische Linienschiffe wurden vernichtet und die anderen in die Flucht geschlagen.«
Bolitho hatte kalt erwidert: »Wir hätten sie alle vernichten können.«
Qunice hatte ihn nüchtern angesehen. »Sie haben getan, was Sie konnten, Sir. Ich glaube, das ganze Geschwader weiß das.«
Bolitho hatte nur mit den Achseln gezuckt. »Ich kann mich nicht mit halben Maßnahmen zufrieden geben.«
Mit einem Seufzer legte er jetzt das Rasiermesser weg und fragte: »Haben Sie die neuen Leute vereidigt, Mr. Inch?«
»Aye, Sir. Ich habe auch einige vernommen, so wie Sie befohlen haben.«
Ruhelos ging Bolitho wieder an die Fenster und beschattete die Augen, während er nach dem leeren Horizont ausspähte. In der späten Nachmittagssonne leuchtete er wie eine goldene Linie. Er hatte diese aus dem Gefängnis befreiten Leute selbst empfangen und ausfragen wollen, war aber noch nicht fähig gewesen, jemandem gegenüberzutreten. In dem Augenblick, als er mit den anderen aus dem Beiboot der Schaluppe an Bord zurückgekommen war, den Jubel und die Willkommensrufe in den Ohren, war ihm seine völlige Erschöpfung erst ganz bewußt geworden.
Inch sagte unvermittelt: »Es sind alles ausgebildete Seeleute, Sir.
Überlebende von einem Handelsschiff, der
Bristol Queen,
die vor einiger Zeit auf der Fahrt nach Caracas
Weitere Kostenlose Bücher