Feind in Sicht
Ihre Einsicht und Ihre Anwesenheit könnten dazu beitragen, daß diese dumme Fehde ein Ende findet.« Er hob zweifelnd die Schultern. »Das bleibt selbstverständlich unter uns. Falls mir auch nur ein Wort zu Ohren kommen sollte, daß eine Andeutung von Mißtrauen oder Unfähigkeit erfolgt sei, werde ich das natürlich mit allem Nachdruck bestreiten.« Und dann verließ er nach einem weiteren kurzen Händedruck das Schiff.
Als Bolitho später an seinem von Papieren bedeckten Schreibtisch saß, fiel es ihm schwer zu glauben, daß durch diese persönlichen Spannungen die Leistungsfähigkeit der hart bedrängten Schiffe und ihrer erschöpften Besatzungen Gefahr lief, beeinträchtigt zu werden. Diese Begegnung mit dem Flaggschiff lag nun vier Tage zurück, und während die
Hyperion
weiter nach Südosten vordrang und ihre Besatzung halbherzig gegen Seekrankheit und schlechtes Wetter ankämpfte, hatte Bolitho seine Befehle sorgfältig studiert und bei seinen einsamen Gängen auf dem Achterdeck versucht, ihre wahre Bedeutung zu ergründen.
Offenbar standen drei Linienschiffe und drei Fregatten unter Pelham-Martins Kommando, sowie zwei kleine Schaluppen. Eins der Linienschiffe sollte zur Überholung und Reparatur nach England geschickt werden, sobald die
Hyperion
seinen Platz übernehmen konnte. Es war wirklich eine sehr kleine Streitmacht.
Doch wenn sie in der richtigen Position eingesetzt wurde, konnte sie sehr gut jede plötzlich erfolgende Bewegung feindlicher Fahrzeuge überwachen. Es war bekannt, daß mehrere große französische Schiffe Gibraltar unbemerkt passiert und bereits den Weg in die Biskaya gefunden hatten. Ebenso war bekannt, daß Spanien gegenwärtig zwar ein Verbündeter Englands war, es aber mehr dem Zwang der Notwendigkeit als echter Freundschaft oder Bereitschaft zur Kooperation folgte. Viele dieser Schiffe mußten dicht unter der Küste Spanien umsegelt und manche mochten sich sogar in spanischen Häfen verborgen haben, um dem Angriff durch britische Patrouillen zu entgehen. Um sich dem Gros der französischen Flotte anzuschließen, würden diese Schiffe wahrscheinlich versuchen, die Gironde oder La Rochelle zu erreichen, um dort ihre Befehle auf dem Landweg zu erhalten, und dann die erste Gelegenheit wahrnehmen, um dicht unter der Küste nach Lorient oder Brest zu gelangen.
An die Tür wurde geklopft, und Midshipman Gascoigne trat über die Schwelle. »Mr. Stepkynes Respekt, Sir, und wir haben gerade ostwärts ein Segel gesichtet.«
»Sehr gut. Ich komme sofort.«
Bolitho sah, wie die Tür sich wieder schloß, und rieb sich nachdenklich das Kinn. Wie immer die Dinge auch liegen mochten, er würde jetzt nicht mehr lange auf eine Aufklärung zu warten haben.
Langsam stand er auf und griff nach seinem Hut. Er spürte das Amulett unter dem Hemd an seiner Brust, und plötzlich dachte er an Cheney. Er hatte ihr einen Brief geschrieben und ihn dem Flaggkapitän mitgegeben, zur Weiterleitung mit dem nächsten Schiff, das einen Heimathafen anlief. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, irgendetwas darin zu ändern, und sie würde glauben, daß er unverändert vor Lorient kreuzte. Aber zweihundert Meilen mehr oder weniger spielten auch keine Rolle, ging ihm flüchtig durch den Kopf.
Als er auf das Achterdeck hinaustrat, bemerkte er, daß die Offiziere in steifer Verlegenheit Haltung annahmen, und vermutete, daß sie vor seinem Erscheinen wahrscheinlich in eine heftige Diskussion über das ferne Schiff vertieft gewesen waren.
Bolitho blickte zu den straff geblähten Segeln und der flatternden Zunge des Wimpels an der Mastspitze hinauf. Das Leinen war steif vor Nässe und Salz, und einen Augenblick empfand er Mitleid mit den Männern, die hoch oben über dem schwankenden Rumpf arbeiteten. Der Wind kam beinahe unmittelbar von achtern, und die See hatte sich zu einem zornigen Panorama kurzer steiler Wogen verändert, deren Schaumköpfe in dem grellen Licht wie gierig gebleckte Raubtierfänge wirkten. Der Horizont war kaum auszumachen, und obwohl sie sich nach seiner Schätzung etwa zwanzig Meilen vor der Küste befanden, war von ihr nichts zu sehen.
Von einem Midshipman nahm er ein Glas entgegen und stützte es gelassen auf das ausgespannte Netzwerk. Er wußte, daß die anderen ihn genau beobachteten, um seine Reaktionen zu erkennen und daraus vielleicht ihr eigenes Geschick zu erraten, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er die erste verschwommene Segelpyramide ins Blickfeld bekam. Er bewegte das Glas
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