Feind in Sicht
vorschlagen. Doch wenn wir versagen, Bolitho, werde nicht ich allein die Konsequenzen tragen.« Er drehte sich um und ging in seine Kajüte. Bolitho starrte ihm mit gerunzelter Stirn nach. Wenn wir versagen, wird keiner mehr übrig sein, um darüber zu streiten, ob wir richtig oder falsch gehandelt haben, dachte er bitter.
Dann sah er sich nach Inchs hagerer Gestalt an der Reling um.
»Mr. Inch, lassen Sie für die
Abdiel
eine abgeschirmte Hecklampe setzen. Dann können Sie die Großsegel für die Nacht bergen.« Er hörte, wie Inch seine Befehle weitergab, hob dann sein Glas und blickte durch das dunkle Netz des Riggs.
Die Insel war in der Dunkelheit verschwunden, ebenso jeder Widerschein von Geschützfeuer. Der Feind mußte jetzt auf die Mo rgendämmerung warten.
Inch kam nach achtern getrabt. »Sonst noch etwas, Sir?« Es klang atemlos.
»Sorgen Sie dafür, daß die Leute gut verpflegt werden. Vielleicht müssen wir morgen auf das Frühstück verzichten.«
Ungleicher Kampf
Bolitho schloß die Tü r zum Kartenraum hinter sich und ging schnell zum Achterdeck. Nur neben dem schwach beleuchteten Kompaß hielt er kurz inne, um sich zu überzeugen, daß der Bug immer noch genau nach Norden wies. Den größten Teil der Nacht über waren die Vorbereitung zur Gefechtsbereitschaft ohne Unterbrechung weitergegangen, bis Bolitho, so zufrieden, wie er sein durfte, Halt geboten hatte und die gespannten, aber erschöpften Matrosen sich für wenige Stunden Ruhe neben ihren Geschützen hingelegt hatten.
Als Bolitho das Achterdeck überquerte, spürte er die leichte Brise kalt und feucht durch sein offenes Hemd und fragte sich, wie lange das anhalten würde, sobald die Sonne erst über den Horizont gestiegen war.
Inch begrüßte ihn mit: »Guten Morgen, Sir.«
Bolitho starrte auf seine blasse Gestalt und nickte. »Sie können jetzt laden und ausrennen lassen, aber mit sowenig Lärm wie möglich.«
Als Inch sich über die Reling beugte, um den Befehl weiterzugeben, sah Bolitho zum Himmel auf. Er war jetzt viel heller als vor einer halben Stunde. Jetzt konnte er die straff gespannten Netze erkennen, die Tomlin und seine Leute während der Nacht über dem Deck ausgespannt hatten, um die Kanoniere vor herabstürzenden Rahen und Stengen zu schützen. Vorher hatten sie sich vom dunklen Himmel nicht abgehoben. Am östlichen Horizont waren die letzten Sterne verblaßt, und ein paar kleine, vereinzelte Wolken waren auf der Unterseite von einem Hauch Lachsrosa überzogen.
Bolitho atmete ein paarmal tief ein, versuchte, das Knarren der Lafetten zu ignorieren und das dumpfe Poltern der Geschütze, deren Rohre durch die geöffneten Stückpforten ausgerannt wurden. Im Gegensatz zu seinen Leuten hatte er nicht geschlafen und die letzte halbe Stunde damit verbracht, sich im Licht einer kleinen Laterne zu rasieren. Zweimal hatte er sich dabei geschnitten, so stark war seine innere Spannung. Aber wenn er sich nicht intensiv mit etwas beschäftigte, gerieten seine Nerven in noch schlechtere Verfassung. Es war immer das gleiche. Die Zweifel und Ängste, die Furcht vor dem Versagen, die Angst vor einer schweren Verletzung und das Grauen vor dem Skalpell des Chirurgen, all das ge isterte bedrohlich durch seine Gedanken.
Jetzt war das Warten nahezu vorüber. Dort vorn, schwarz und nach beiden Seiten ausladend, lag die Insel; jetzt brauchte er kein Glas mehr, um die gedämpft schimmernde, weißliche Brandung auszumachen, wo sich die anlaufende See über den Riffen brach.
Die
Hyperion
lag auf Backbordbug hart am Wind, die Marssegel und Bramsegel dichtgeholt, um den schwachen Wind mit größtmöglichem Vorteil zu nutzen. Alle unteren Segel waren aufgegeit, denn diese großen Leinwandflächen bedeuteten immer Brandgefahr, wenn der Kampf begann.
Inch richtete sich auf, als eine Stimme vom Hauptdeck rief: »Alle Geschütze ausgerannt.«
Wie Bolitho und die anderen Offiziere trug er nur Hemd und Hose; seine Stimme bebte leicht, entweder vor Aufregung oder wegen der Kälte.
»Sehr gut. Schicken Sie einen Midshipman zum Kommodore.« Während Bolitho sich rasierte, hatte er mehrmals eine Pause gemacht und gelauscht. Doch dieses Mal hatte er kein sanftes Schnarchen durch die Zwischenwand wahrgenommen. Pelham-Martin mußte ruhelos grübelnd in seiner Koje liegen; er konnte sich nicht einmal mit Kampfvorbereitungen ablenken.
Gossett schneuzte sich in ein großes rotes Taschentuch. Das Geräusch erschütterte die allgemeine Stille wie ein
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