Feind
Einigen Opfern zerfetzte sie den Verstand. Sie wären zu
sabbernden Idioten geworden, hätten sie diese Nacht überlebt. Aber Lióla hatte
sie nicht angelogen.
Wenigstens eine Stunde war vergangen, dann geschah es plötzlich. Wie
ein Blitz streckte das Charisma der erwachenden Schattenherzogin sie nieder.
Lióla warf sich so heftig auf die Knie, dass sie von den Stufen der Freitreppe
stürzte. Hart prallte sie auf den Boden, aber der Schmerz interessierte sie
nicht. Lisanne war erwacht! Lióla presste die Stirn auf das Pflaster. Ihre
Augen liefen über mit Tränen der Dankbarkeit.
Lisanne nahm jetzt unmittelbar die Essenz entgegen. Lióla konnte
ihrem Verlangen nicht widerstehen. Sie musste ihre Meisterin schauen! Scheu hob
sie den Blick.
Lisanne war nur bis zur Brust zu sehen. Darüber verdichtete sich die
Essenz so stark, dass der dunkle Schaum die Sicht versperrte.
Aber das dauerte nur ein Dutzend Herzschläge an, dann hatte die
Schattenherrin das Leben aller Opfer gänzlich in sich aufgenommen. Bleich und
schön stand sie in der Nacht, den Blick unverwandt in die Ferne gerichtet, wo
noch einige Gehöfte brannten. Da die Gardisten niemanden mehr bewachen mussten,
knieten sie nieder. Die Toten lagen kreuz und quer übereinander, reglos bis auf
das Blut, das aus ihren Augen tropfte. So war Brünetta die Einzige, die Lisanne
stehend anglotzte, das Kleid von Idiotenblut getränkt. Lióla schämte sich
dafür, der Meisterin den Anblick dieses Ghouls zuzumuten. Hätte sie es
vermocht, hätte sie Brünetta sofort sterben lassen.
»Dunkelruferin«, hörte sie das Flüstern der so lang ersehnten,
übersinnlichen Stimme. »Du hast mir Freude bereitet. Komm zu mir.«
Lióla sprang auf, um den Wunsch Lisannes sogleich zu erfüllen. An
ihrer Seite stach etwas, wahrscheinlich war eine Rippe gebrochen, aber wen
kümmerte das schon, wenn man der Schattenherzogin nahekommen durfte? Dafür
hätte sie sich jeden beliebigen Knochen aus dem Leib reißen lassen. Selig warf
sie sich auf die obersten Stufen, wagte aber nicht, Lisannes Füße zu berühren.
»Erhebe dich, Dunkelruferin.«
Zitternd tat sie es.
»Ich war nicht wach, aber ich habe auch nicht geschlafen«, erklärte
Lisanne so leise flüsternd, dass nur Lióla sie verstand. »Sprach einer dieser
Unwürdigen von Baron Truber von Eskad?«
Lióla dachte nach. »Ich erinnere mich nicht, Herrin.«
Abwesend nickte Lisanne. »Wisse, dass wir einen Kontrakt mit Truber
geschlossen haben. Seine Baronie wird von uns kein Leid erfahren.«
Entsetzt fiel Lióla auf die Knie, was auf den Stufen nicht einfach
war. »Ich wusste nicht, dass wir einen Pakt brachen!«
»Leise«, bat Lisanne, wandte den Kopf und schenkte ihr die Gnade
eines direkten Blicks aus ihren Augen. »Steh wieder auf. Wenn niemand davon
weiß, niemand davon berichten kann, dann ist es niemals geschehen.«
Lióla seufzte erleichtert. »Ich habe alle Bewohner des Tals
zusammentreiben lassen. Keiner von ihnen hat überlebt.«
»Von ihnen nicht.« Lisannes Blick glitt über die knienden Gardisten.
Lióla schluckte schwer. »Ich verstehe. Es wird mir eine Ehre sein,
meine Lebenskraft für Euch zu geben.«
»Deine Lebenskraft? Vielleicht. Du hast zu viel gesehen, um jetzt
noch in die Unwissenheit zurückzukehren. Du hast mein Wesen geschaut, und du hast
eine Schattenherzogin gerettet.«
Lióla wollte gegen den blasphemischen Gedanken protestieren, aber
Lisanne gebot ihr mit einem Wink Schweigen.
»Ich allein befinde über dein Schicksal, aber nicht heute Nacht.
Doch diese hier müssen auf ewig schweigen. Lass sie die Mühle niederbrennen und
dann versammle sie. Sag ihnen, es handele sich um ein Ritual der Stärkung.«
Ihre wundervollen Lippen zeigten die Andeutung eines Lächelns. »Das wird es
auch sein. Nur wird es nicht sie stärken, sondern mich.«
»Sie ist erstarkt«, sagte Helion. »Ich weiß es!«
Limoras sah ihn an. Helion hatte aufgegeben, die Stimmung in dem
fremdartigen Gesicht des Fayé ablesen zu wollen. Ein Mensch vermied den
Augenkontakt, um seine Gedanken zu verschleiern. Fayé hatten keine Augen. Keine
wie Menschen. Die Öffnungen neben Limoras’ Nase waren ähnlich geformt, aber man
hatte das Gefühl, durch Löcher in einer Wand in ein weites Land zu spähen, das
von blauen Nebelschwaden erstickt wurde. Diese Wesen hatten eine starke
Verbindung zur Welt der Geister. »Was meint Ihr mit ›erstarkt‹?«, fragte
Limoras.
Immerhin hielt er sich genauso schlecht auf einem Pferd wie
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