Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
Vom Netzwerk:
sehen, welchen Lohn euch
all die Gaben, die ihr dargebracht habt, einbringen! Na los! Irgendwo über den
Wolken stehen die Monde! Fleht um eure Rettung!«
    Zunächst gingen sie es zaghaft an. Lióla musste der vorlauten Alten
die Nase abschneiden lassen, bis sie mit angemessener Hingabe um ihre Rettung
bettelten. Menschen waren so dumm. Es fiel ihnen schwer, das Gewicht von Worten
zu erfassen. Sie mussten Taten sehen, um zu begreifen. Das lag daran, dass sie
selbst ständig dummes Zeug quasselten. Schließlich war ihr Verstand so
unwissend wie der einer Raupe, die ihr ganzes Leben an einem einzigen Busch
zubrachte. Der Gedanke, dass Lióla selbst so erbärmlich hätte werden können,
war ihr unangenehm. Wenn Modranel sie nicht an Baron Gadior übergeben hätte …
    Im Grunde hatte ihr Vater doch einige brauchbare Entscheidungen
getroffen, fand sie. Er hatte sie in die Schatten geführt und vor ein paar
Nächten den Anstand besessen, seine Essenz für Lisanne zur Verfügung zu
stellen. Irien sah fragend zu ihr auf, als sie ohne einen für ihn erkennbaren
Grund lachte.
    Die Sonne war gegangen. Zeit für die Dunkelheit.
    »Brünetta! Nimm den Idioten und reiß ihn in der Mitte auseinander!«
    »Nein!« Trotz ihrer eigenen Verletzung warf sich die Alte vor den
Trottel, der noch nicht einmal wusste, was Götter waren. Er war genauso dumm
wie ein Ghoul, wäre es da nicht herzlos gewesen, ihm Brünettas Umarmung
vorzuenthalten?
    Ein Gardist zog die Alte weg. Das löste einen kleinen Tumult aus. Da
die Bewaffneten erkannt hatten, dass Lióla die Gefangenen lebend brauchte,
schlugen sie mit den flachen Seiten ihrer Schwerter zu. Einige Platzwunden gab
es dennoch. Lióla hörte Knochen brechen.
    Eisiges Schweigen legte sich über die Schreie, als Brünetta den
Idioten endlich gepackt und auf die Füße gezogen hatte. Er begriff wohl immer
noch nicht, wie kurz die Zeit war, die er noch zu leben hatte. Ein Grund mehr,
ihn zu wählen. Wer so wenig von dem verstand, was um ihn herum vorging, konnte
seine Gefühle nicht auf die Schattenherzogin ausrichten. Seine Essenz wäre
schwierig zu ernten gewesen.
    Alle diesbezüglichen Überlegungen wurden überflüssig, als Brünetta
ihren Befehl ausführte. Ihr weißes Kleid war nun endgültig unbrauchbar. Selbst
wenn die Gedärme fortgewischt wären, wäre noch so viel Blut darin, dass der
Anblick jeden ästhetisch gebildeten Verstand beleidigen musste. Da war selbst
der nackte Ghoulkörper eher zumutbar.
    Lióla war dennoch zufrieden. Die Menge war angemessen entsetzt. »Ihr
werdet alle sterben!«, rief sie. »Die Mondmutter hilft euch nicht! Die Schatten
sind über euch gekommen! Jetzt seid ihr das Eigentum der Nacht! Lisanne, die
Schöne, fordert euer Leben von euch! Verzweifelt! Es gibt keine Rettung!«
Triumphierend sah sie in die weit aufgerissenen Augen. »Ihr seid allein, von
allen verlassen. Niemand wird euch retten.«
    Sie breitete die Arme aus und schloss die Lider. Die Verbindung zu
Lisanne hatte sie in den vergangenen Tagen so oft gesucht, dass sie sie sofort
fand. Die Gefühle der Menschen richteten sich stärker auf sie selbst, Lióla,
als auf die Schattenherrin, aber das war nicht schlimm. Sie würde als Medium
fungieren, wie eine Linse, die einen Lichtstrahl lenkte. Um den Verlust an
Essenz möglichst gering zu halten, fasste sie Lisannes kalte Hand.
    Die Dunkelruferin verlangte nach der Essenz. Sie spürte, wie sich
die Lebenskraft als glitzernder Schaum von den Menschen löste. Es war ein
Prickeln auf der Haut, nicht gestört durch die Robe, die sie trug. Dann fühlte
sie die Essenz durch sich hindurchpulsieren. Sie benutzte ihre Nerven, wanderte
an ihnen entlang zur Schattenherrin. Dort würde sie über den Körper fließen,
den Hals entlang, über die Wange bis zur Nase, wo sie aufgenommen werden würde.
    Als der Anfang gemacht war, wurde es sofort leichter. Die Menschen
erfassten, dass etwas mit ihnen geschah, was sie nicht verstanden, aber aus den
Legenden kannten, die überall von den Osadroi erzählt wurden. Das steigerte
ihre Furcht, und damit floss auch die Essenz freier. Lióla hielt sie nicht
zurück, wie sie es in Karat-Dor getan hätte, wenn es darum gegangen wäre,
Kristalle gründlich zu füllen. Jetzt wollte sie Lisanne wecken, und dazu war
eine möglichst starke Zufuhr am besten geeignet.
    Die ersten Menschen starben. Lióla versuchte es auszugleichen, indem
sie stärker nach der Lebenskraft der anderen rief, Hindernisse zerriss,
Widerstände brach.

Weitere Kostenlose Bücher