Feind
Namen, würde die Zeremonie mit SEINER Anwesenheit
ehren. Sie wäre eine Baroness, eine Schattenherrin ohne eigenes Lehen, solange,
bis sie genug gelernt, sich an die Ewigkeit gewöhnt hätte.
Ewigkeit. Der Gedanke ließ sie zittern.
Wer unsterblich war, dem war der eigene Wille die einzige Grenze. Was gedacht
werden konnte, das konnte auch vollbracht werden. Der Kult hatte tausend
Priester und tausend mal tausend Gläubige. Alle wären bereit, für Lióla ihr
Leben niederzulegen, nur um ihr zu gefallen. »Osadra.« Sie flüsterte das Wort,
schmeckte jeder Silbe nach.
Als sie aus ihren Gedanken auftauchte, stand die Sonne schon einen
Fingerbreit über dem Wald. Ihre Waden hatten sich inzwischen erholt. Sie machte
sich an den Abstieg, vorsichtig, damit sie nicht stolperte. In der letzten
Woche hatte sie sich geschont, alle kleinen Schnitte und Abschürfungen
verheilen lassen, die sie sich auf der Reise bis zu König Ilions Hof zugezogen
hatte, auch die Rippe, die sie sich beim Sturz bei Lisannes Erwachen geprellt
hatte. Sie wollte makellos in die Unsterblichkeit gehen, obwohl sie gehört
hatte, dass sogar eine abgeschlagene Hand nachwuchs, wenn sich die Schatten auf
einen Menschen senkten und ihn zum Osadro machten. Sie eiferte Lisanne und
ihrem Sinn für Ästhetik nach.
Fünf Gardisten begleiteten sie zum Ritualplatz. Nicht so sehr, weil
sie gefährdet gewesen wäre, obwohl es schon vorgekommen war, dass Neider, die
sich übergangen gefühlt hatten, einen Erwählten kurz vor dem Gang in die
Schatten mit scharfem Stahl aufgehalten hatten. Aber das geschah selten. Die
Gardisten wussten, dass Lióla bald bedeutend sein würde, unsterblich, eine
Osadra, die das Recht hätte, über das Schicksal jedes Einzelnen von ihnen zu
befinden. In bestimmten Konstellationen galt es als unhöflich, wenn ein
Schattenherr einen Menschen tötete. Meistens war es ohne Belang. Umgekehrt
konnte die Gunst eines Schattenherrn das Vorankommen in Ondrien ermöglichen.
Sie brachte Gold, Frauen, Untergebene. Alles kam aus den Schatten, alles diente
den Schatten, alles ging in die Schatten.
Es bestand keine Notwendigkeit für Lióla, zu dieser Zeit auf dem
Ritualplatz zu sein. Die Zeremonie würde erst in der Nacht stattfinden, der
ganze Tag lag noch dazwischen. Aber sie wollte das Gesicht von Nachtsucher
Nemerat sehen. Er stand im Kult deutlich höher als sie, die Dunkelruferin, und
doch war Lióla erwählt worden, weil sie in einem Schicksalsmoment richtig
gehandelt hatte. Es musste ihn übel angehen, dass ein Leben voller
erfolgreicher Intrigen, Pläne, Bündnisse und entschlossener Angriffe nicht die
Früchte trug, die Lióla nun erntete.
In der Tat stellte Nemerat ein so wächsernes Gesicht zur Schau, dass
überdeutlich wurde, dass er seine Gefühle verbarg. Artig verbeugte sich der
sehnige Mann. »Ich hoffe, alles ist zu Eurer Zufriedenheit, Dunkelruferin?«
Verwendete er ihren Titel aus Gewohnheit, oder weil er sich zu einer
Provokation hinreißen ließ? Noch war er korrekt, aber in zehn Stunden schon
wäre er bedeutungslos.
In den kühnen Träumen, in denen Lióla ihrem Sehnen freien Lauf
gelassen hatte, war immer ein Schloss Schauplatz ihrer Verwandlung gewesen.
Meistens ein Gebäude mit spitzen, himmelstrebenden Türmen, hoch im Eis des
Nordens, wo die Nächte lang waren und auch der Letzte verstanden hatte, dass
ein Frevel gegen die Schatten keine Hoffnung auf Erfolg barg. Dass die
Zeremonie unter freiem Himmel stattfinden würde, hatte sie nicht erwartet. Es
störte sie aber auch nicht. Hauptsache, ich lasse den Makel
der Sterblichkeit hinter mir.
Sie schauderte, als sie den Thron betrachtete. Nicht wegen der
menschlichen Schädel, aus denen er errichtet war, sondern weil sie sich
vorstellte, dass dort bald der SCHATTENKÖNIG Platz nehmen würde. ELIEN VITAN würde der
Zeremonie von diesem Ort aus beiwohnen. Schon deswegen musste alles perfekt sein.
Soweit man es in dieser Umgebung erwarten konnte, war der Platz
sauber, die Felsblöcke geschrubbt. Dass man am Opferstein noch immer sehen
konnte, wo Blut geflossen war, störte Lióla nicht. Im Gegenteil, es war
nützlich. Die Kinder mussten Angst empfinden, und wenn einige von ihnen klug
genug waren, um die Assoziation herzustellen, würden sich diese Spuren als
hilfreich erweisen. Wie wird es wohl sein, zum ersten Mal
Essenz zu atmen?
Sie wollte Nemerat gerade ihre herablassende Zustimmung mitteilen,
als sich ein Seelenbrecher dazwischendrängte. »Ich habe
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