Feind
verstimmt reagiert, aber hier hatte Helion
Estrog die Freiheit verschaffen können, gemeinsam mit ihm selbst und Pepp der
Fährte eines Hirsches zu folgen. In den Fechtstunden schlug sich Pepp an seiner
Erfahrung gemessen gut, auch wenn Helion ihm das nicht zeigte, nun wollte der
Barbarenhäuptling ihm beibringen, wie man sich unauffällig bewegte – eine
Fertigkeit, die für einen Späher überlebenswichtig war und die man sich, so
sagte Estrog, nirgendwo besser als auf der Jagd aneignen konnte. Die Sinne des
Wildes waren meist schärfer als die von Wachen, die in der Zivilisation
aufgewachsen waren.
Obwohl Helion seine Rüstung beim Tross zurückgelassen hatte und
seine Wildlederkleidung ihn in keiner Weise einschränkte, kam er nicht umhin,
Estrogs Geschmeidigkeit zu bewundern. Dem riesenhaften Mann gestand jeder, der
seiner Muskelberge ansichtig wurde, gewaltige Körperkräfte zu, aber man neigte
auch dazu, Menschen von solcher Statur eine gewisse Unbeweglichkeit zu
unterstellen. Estrog glitt jedoch durch das Unterholz, als wäre er eine
Raubkatze, und seine Augen waren die eines Falken. Helion war ein geübter
Jäger, das Privileg, dem Wild nachstellen zu dürfen, hatten auch Meister
Treaton und er weidlich ausgenutzt, um den Speiseplan in der Einsiedelei zu
bereichern. Dennoch sah er die Fährte in dem Kiesbett des Baches erst, als
Estrog darauf zeigte.
»Ein kleiner Stein wurde vom Gewicht eines Hufs auf dem größeren
zerdrückt«, flüsterte Estrog die Erklärung, die eigentlich für Pepp gedacht
war. »Dabei wurde er zu diesem weißen Staub zermahlen. Wir sind unserem
Freund«, er nannte die Beute immer ›Freund‹, und es hörte sich so an, dass ihn
tatsächlich Zuneigung mit dem Hirsch verband, »jetzt ganz nah. Der Wind hätte
den Staub sonst schon verweht.«
Pepp nickte, aber man sah, dass er überfordert war. Er atmete
heftig, war offensichtlich nicht gewohnt, eine so lange Strecke durch
schwieriges Gelände im Dauerlauf zurückzulegen.
Mit Estrogs Hilfe folgten sie der Fährte in den Wald, wo sie auch
für Pepps Augen deutlich genug war. Kurz darauf hielt Helion sie zurück und
bedeutete ihnen, sich hinzuhocken. Er deutete voraus, zwischen zwei Büschen
hindurch.
Estrog nickte grinsend und legte seine Pranke auf Pepps Rücken. Da
vorn war der Hirsch. Er knabberte knospende Blätter von frischen Trieben.
Helion schätzte die Entfernung auf zwanzig Schritt.
Pepp zog einen Jagdpfeil aus dem Köcher. Im Gegensatz zu der im
Krieg verwendeten Variante besaß die Spitze keine Widerhaken. Einatmend führte
Pepp die Sehne bis ans Kinn. Er hielt die Luft jedoch zu lange an, sodass sein
gestreckter Arm bereits zitterte, als er das Geschoss auf seinen Weg entließ.
Er traf trotzdem, wenn auch nicht aufs Blatt, sondern in die Flanke.
Erschrocken sprang der Hirsch davon.
»Wie ein unwilliges Weib!«, brüllte Estrog. »Hinterher!«
Kurz zögerte Helion, bevor er sich seinen Kameraden anschloss. Die
Bemerkung des Barbaren ließ ihn an Ajina denken. Dabei war diese eine schöne,
junge Frau, die er niemals als ›Weib‹ bezeichnet hätte. Sie war auch nicht
unwillig. Und das machte es für ihn nur noch schwieriger, überlegte er, während
sie der deutlichen Blutspur folgten. Giswons Eröffnung, dass Ajina Modranels
Tochter war, hatte ihn überrascht. Nein, das war bei Weitem zu milde
ausgedrückt. Sie hatte ihn entsetzt, und als das Entsetzen gewichen war, war
eine Taubheit zurückgeblieben.
Sie war unzweifelhaft attraktiv, nicht nur wegen ihrer schönen
Gestalt, ihrer funkelnden Augen, des Sonnenglanzes ihres Haars, sondern auch
wegen des wachen Verstandes, der in schnippischen Bemerkungen aufblitzte. Er
fühlte sich zu ihr hingezogen, weit stärker, als es bei jeder anderen Frau der
Fall war. Wenn ihm ein Freund von einer solchen Frau in seinem Leben berichtet
hätte, dann hätte Helion diesem eröffnet, dass er sie liebte.
Aber bei Ajina war es anders.
In Akene hatte er eine Vertrautheit zu ihr verspürt, wie sie sonst
nur in Monaten wachsen konnte. Aber dann hatte er gelernt, dass er gar nicht
mit ihr vertraut sein konnte , weil er nichts von ihr
wusste. Nicht einmal, dass sie die Tochter des verderbten Magiers war, der das
Leben von Helions Meister zerstört hatte. Ihr Vater war der ruchloseste Mensch,
der unter dem Himmel wandelte, seine Taten eine Beleidigung für alle Götter und
alle rechtschaffenen Menschen. Daran änderte auch der Gesinnungswandel nichts,
den er kürzlich vollzogen haben
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