Feind
seine Arme nicht zurück, als sie sich um ihre Schultern
legten. »Wir haben genug von deinem Vater geredet.« Vorsichtig tastete seine
Zunge an ihren Zähnen.
»Bist du sicher, dass ein Seelenspiegel niemanden verletzen kann?«
Sie küssten sich lange, bevor er flüsterte: »So hat es mein Meister
mich gelehrt. Aber ich bin zuvor keinem begegnet.«
»Dann sollten wir sichergehen.« Ihre Finger spielten mit einem
Verschluss seiner Rüstung. »Ich werde dich genau untersuchen müssen.«
Er lachte.
Sie sah ihn ernst an. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, Helion.
Morgen könnten wir sterben.«
»Wir sind dem Feind so nah, dass jede Stunde den Tod bringen kann«,
stimmte er zu.
»Worauf willst du dann noch warten?«
Er half ihr, die Toga auszuziehen.
Lisanne! Da Baron Gadior seine Truppen an einem anderen
Frontabschnitt befehligte, würde Lióla die unaussprechliche Ehre haben, der
Schattenherzogin selbst gegenüberzutreten. Ungeduldig starrte sie auf den Rest
der verhassten Sonne, der noch über die Hügel lugte.
Man hatte versucht, das hohe Westfenster zu reparieren, aber elegant
war die Arbeit nicht gerade. Es reichte vom Boden bis zur Decke des neun
Schritt hohen Tanzsaals. Bei den Kämpfen um Delguardaja, die Stadt, die sich
nördlich der noch immer vom Feind gehaltenen Feste Guardaja erstreckte, war es
zu Bruch gegangen. Lióla stellte sich vor, wie tausend Glassplitter auf dem
federnden Holzboden gelegen hatten. Beinahe konnte sie ihr Knirschen unter den
Schuhsohlen hören. An den Rändern sah man noch bunte Scheiben. Das Fenster
hatte wohl ein Bild gezeigt, vermutlich eine dieser Szenen von Tjoste oder
Jagd, die die Milirier so liebten. Jetzt war es mit einem Gitter aus
Metallstreben verschlossen, in das farbloses Glas eingesetzt war. Die
Konstruktion erfüllte ihren Zweck, hielt den Wind draußen und gestattete den
Blick über das mit Häusern gefüllte Tal bis zu den steil ansteigenden Flanken
der Berge im Südwesten, deren einziger Pass von Guardaja blockiert wurde. Aber
schön war das Fenster nicht. Da bot der Boden dem Auge schon mehr. Er war aus
verschiedenen Holzsorten gefügt, die mit ihren Maserungen die Wappen edler
Geschlechter bildeten. Gefallene Häuser, allesamt. Wenn nicht jetzt, dann wenn
Guardaja erobert wäre oder ein Jahr später, ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert …
Was machte das schon? Ondrien würde seine Finsternis so weit nach Süden tragen,
wie der SCHATTENKÖNIG , Ehrfurcht SEINEM Namen, es wünschte.
Als die in feine Spitze gekleideten Diener kamen, um die Leuchter zu
entzünden, fuhr Lióla sie an und drohte ihnen mit dem Strick, sollten sie sich
nicht beeilen, als könne sie so den Untergang der Sonne beschleunigen. Leider
musste sie jedoch feststellen, dass eine Dunkelruferin jenen, die täglich
Umgang mit Unsterblichen hatten, keine Angst einjagen konnte. So ging sie
missmutig auf und ab und stellte sich vor, wie die Edlen, die in diesem Saal
getanzt hatten, in ihren Gräbern moderten als Futter für die Ghoule, oder wie
sie, heimatlos geworden, verlorene Haufen Bewaffneter in einen Krieg gegen
einen Gegner führten, dessen Stärke sie noch immer nicht erfasst hatten. Es war
seltsam, dass sie unbeschwert auf diesem Boden getanzt hatten. Hatten sie die
Ironie erkannt, die darin lag, dass sie mit den eigenen Füßen auf die Wappen
ihrer Häuser getreten waren? Verfuhr man so nicht mit den Flaggen der
Besiegten?
Während die Diener den Leuchter abließen, um ihn mit frischen Kerzen
zu bestücken, sah sie durch die geöffnete Tür hinaus in den Wandelgang. Dort
hatte sie zehn Krieger postiert, etwas übertrieben vielleicht angesichts der
gesicherten Umgebung, in der sie sich befand, aber sie wollte auf keinen Fall
so kurz vor der Übergabe die vier Truhen mit den Kristallen verlieren.
Brünetta, wie sie Pnemaja in ihrem untoten Dasein nannte, stand zwischen den
Kisten. Lióla hatte sie für den besonderen Anlass in ein weißes Seidenkleid
gesteckt, dessen Schimmern mit den grünen und blauen Verfärbungen ihrer Haut
harmonierte. Es musste einer beleibten Dame gehört haben, da es genug Platz für
den ghoulischen Buckel bot. Ein Schneider hatte am Nachmittag Hand angelegt,
damit es nicht zu sehr einem Sack ähnelte. Dadurch war es jetzt so auf Figur
gerafft, dass Brünetta es nicht mehr ausziehen konnte. Bald würde sie wieder in
Lumpen gehen. Immerhin hatte sie es noch nicht zerrissen. Das hätte der
entscheidenden Begegnung die Würde genommen. Lióla rang die Hände. War
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