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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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es
wirklich ein guter Gedanke gewesen, einer Schattenherzogin mit einem Ghoul
unter die Augen zu treten?
    Als die Diener den Saal wieder verließen, war auch die Sonne
untergegangen. Sie schlossen die große Tür, sodass die Krieger und der Ghoul
Liólas Blick entzogen wurden und sie erneut allein mit ihrer furchtsamen
Vorfreude war. Lióla wusste so wenig von Lisanne! Sie stammte aus dem Süden,
sagten die meisten Quellen. Fünf Jahrhunderte hatte sie wenigstens gesehen,
denn so alt war ein von ihrer eigenen Hand geschriebenes Dokument, das Lióla
für Baron Gadior aus dem Archiv gesucht hatte. Es war eine Abhandlung über den
Geist und seine Anfälligkeit gegen verschiedene Versuchungen. Niemals hatte
Lióla eine Schrift gelesen, deren Buchstaben mit solcher Sorgfalt gesetzt
waren. Sie waren nicht monoton, nicht gleich. Man merkte dem Text an, dass die
Kalligrafin, Lisanne selbst, darauf geachtet hatte, dass jedes Wort, jeder
Buchstabe, jeder Strich die Harmonie im Gesamtbild der Seite erhöhte. Man
musste wohl eine Unsterbliche sein, um ein Blatt nach dem anderen zu
verbrennen, bis schließlich eines in Vollkommenheit erstellt war und in das
Buch eingebunden werden konnte. Lisannes Schlussfolgerung war, dass die
kraftvollste Sehnsucht der Seele jene nach Schönheit war. Gier, Hass, Liebe
oder Neid konnten mit größerer Impulsivität Besitz von einem Herzen ergreifen,
aber die Schönheit wirkte in der Tiefe. Lisannes Schrift, die Gestaltung ihres
Werks, war die stärkste Bekräftigung dieser These. Wer sie betrachtete, konnte
sich leicht in der dunklen Harmonie verlieren. Man sagte, Lisanne selbst sei
die Verkörperung der Schönheit in der Welt des Greifbaren. Lióla zitterte in
Erwartung der Begegnung.
    Als sich eine kleine, goldbeschlagene Tür öffnete, war es ihr mit
einem Mal viel zu früh. Erschrocken ließ sie sich auf ein Knie nieder, beugte
sich weit über den Oberschenkel des anderen Beines und drückte die Fäuste auf
den Boden. Sie wagte nicht, aufzublicken, sondern verharrte reglos in der
ehrfürchtigen Haltung. Schon das leichte Schwingen des schwarzen Umhangs, der
sich um ihre Arme legte, kam ihr ungehörig und bestrafungswürdig vor.
    Sie hörte, wie sich mehrere Personen näherten. Mehr als zwei,
weniger als fünf. Sie setzten ihre Schritte ohne Hast. Mit
der Geduld von Unsterblichen.
    »Dunkelruferin Lióla von Karat-Dor. Erhebe dich.« Die Stimme war
unwiderstehlich. Nicht, weil ihr Gewalt innegewohnt hätte wie dem Befehl eines
Feldherrn oder die Süße eines Liebhabers, die den Zauber einer Nacht versprach.
Ihre Verheißung war nicht Wohlwollen oder Gnade oder Reichtum. Sie war
Vollkommenheit. Knapp unter ihrer Brust, in ihrem Sonnengeflecht, spürte Lióla
eine erhabene Kälte, wie es sie in der Schwärze zwischen den Sternen geben
mochte, wo alles vor dem Schweigen der Unendlichkeit verstummte. Und so wie
auch die Sterne stets vollkommen waren, unbeirrbar in ihrem Platz am Himmel,
schön und unnahbar, so waren auch diese Worte vollkommen. Die Welt war in
Unordnung, ihre Harmonie gestört, solange nicht der Zustand hergestellt war,
den diese Stimme bezeichnete. Es gab keinen Widerstand und keine Furcht. Lióla
stand auf.
    Es waren zwei Männer und eine Frau. Nein, nicht einfach eine Frau . Lisanne. Obwohl ihre Bildnisse in Karat-Dor ihr
in keiner Weise gerecht wurden, war sie unverkennbar. Ihr Gesicht war lang und
schmal, die Wangenknochen hoch angesetzt, die Nase gerade, die Brauen dünn und
doppelt geschwungen, die hypnotischen Augen graublau. Das Kinn hatte eine harte
Linie, die schmalen Lippen brannten leuchtend rot in einem weißen Gesicht. Ein
bläulicher Schimmer lag auf dem schwarzen Haar, das von der elfenbeinernen
Krone aus der Stirn gehalten wurde und umso dichter über die Schultern auf den
Rücken fiel. Lisanne trug ein schwarzes Kleid, das so genau abgemessen war,
dass sein Saum den Boden küsste. Um den Hals funkelten blaue Edelsteine, in das
Gespinst einer Platinkette gefasst. Die Ärmel reichten nur zu den Ellbogen.
Unterarme und Hände waren ebenso weiß wie das Gesicht und der Schwanenhals.
Sogar die Krallen, obwohl spitz und so lang wie ein Fingerglied, wirkten
elegant in ihrem metallischen Schimmern. Liólas Augen füllten sich mit Tränen.
Die beiden Männer bemerkte sie nur am Rande. Auch sie waren Osadroi, eine
unverkennbare Tatsache, die Lióla bei jeder anderen Gelegenheit veranlasst
hätte, ihnen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Aber Lisannes

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