Feind
ganz ungefährlich«, beteuerte er.
»Dass von Euch etwas Ungefährliches kommt, wage ich noch nicht zu
glauben«, erwiderte sie schnippisch, klopfte aber die Erde von den Wurzeln und
reichte die süße Speise ihrer Patientin. Gelaja hatte sich nicht beklagt, als
Ajina ihren Fuß mit Heilpaste eingerieben und geschient hatte. Leider lag das
weniger an der Tapferkeit des Mädchens als an dem Schrecken, der es noch immer
im Bann hielt.
»Kinder sind stark«, murmelte Helion. »Sie können viel leichter
vergessen als Erwachsene.«
»Ja, nicht wahr?«, fragte Ajina und sah ihn direkt an.
Unbehaglich wandte er sich von ihren Saphiraugen ab.
Gelaja kaute auf der Wurzel. Ihr Gesicht blieb dabei unbewegt, aber
sie schien ihr zu schmecken, denn sie biss noch einmal ab.
Ajina trat an ihn heran. »Ich will Euch nur dieses eine Mal bitten,
mir zu antworten, danach werde ich wieder schweigen. Wir gehen auf eine
gefährliche Mission, vielleicht werden wir sterben. Wollt Ihr mir nicht sagen,
was ich Übles getan habe, dass Ihr mich meidet? In Akene war es anders, und
auch in der Mine. Ich bin Euch nicht gleichgültig, sonst wärt Ihr mir nicht in
die Nacht gefolgt.«
»Ich habe den Befehl, Euch zu schützen.« Die kalte Erwiderung fühlte
sich wie Eis in seinem Hals an. Unwillkürlich hustete er. Verriet er nicht ein
Ideal, das ein Mondschwert leitete? Die Ehrlichkeit? »Aber Ihr seid mir nicht
gleichgültig, Ajina.«
»Was ist es dann? Hat man Euch befohlen, mir fernzubleiben?«
Einer der Gnome rettete ihn, indem er Ajina ansah und ihr eine Frage
stellte. »Darf Gelaja die Sterne sehen? Sie ist so traurig. Sie sieht immer
gern die Sterne an.«
Ajina strich über den Kopf des Kindes. »Gelaja hatte eine sehr
anstrengende Nacht. Ihr Fuß ist jetzt versorgt, aber es kann sein, dass sie
noch weitere Verletzungen hat. Ich muss sie untersuchen.«
»Ich glaube nicht, dass der Seelenspiegel sie verwundet hat«, sagte
Helion. Treaton hatte ihn viel über die Unkreaturen der Finsternis gelehrt. »Er
hat nur wenig Gestalt in der Wirklichkeit. Ein Seelenspiegel ist zu
feinstofflich, um einen Menschen körperlich anzugreifen.«
»Und was ist mit dieser Kälte, die einen durchdringt?«, zweifelte
Ajina.
»Mehr Vorstellung als Wirklichkeit. Wasser würde nicht gefrieren,
wenn er es berührte.«
»Bitte! Gelaja ist so traurig!« Der Knabe nahm die Hand seiner
Freundin.
Ajina seufzte ergeben. »Na gut. Aber nur, wenn ihr mir versprecht,
dass ihr aufpasst, damit Gelajas Decken nicht verrutschen. Sie soll ja nicht
frieren.«
Eifrig nickend bestätigten die Gnome, dass sie für ihre Kameradin
Sorge tragen würden. Helion half dabei, das federleichte Kind, dem der Hunger
sicher nicht fremd war, nach draußen an ein Lagerfeuer zu tragen. Es war wohl
mehr der Respekt vor seiner silberbesetzten Rüstung, der die Erwachsenen zur
Seite rücken ließ, als das Mitleid mit dem Mädchen. Das war ihnen nicht zu
verdenken. Sie kamen von der Front und hatten ähnlich Schlimmes gesehen wie den
Seelenspiegel.
Als sie mit Gelajas Lager zufrieden war, nahm Ajina Helions Hand und
führte ihn in das Zelt des Ritters zurück. »Ihr wolltet mir die Mauer zeigen,
die zwischen uns steht«, erinnerte sie und sah ihn schüchtern an.
Er fand keine passenden Worte.
»Denkt Ihr nicht, ich habe es verdient, dass Ihr mir diese Bitte
erfüllt? Ihr seid mein Beschützer und der meines Vaters. Da will ich wissen,
woran ich bei Euch bin.«
»Ja, Euer Vater !«, platzte er heraus.
»Was ist mit meinem Vater?«
Gerade noch hielt Helion einen Fluch zurück. »Wie könnt Ihr zu ihm
stehen? Er ist ein Magier der übelsten Sorte. Soweit ich sehen kann, bereut er
nichts! Ich verstehe noch nicht einmal, warum er mit uns gekommen ist. Er
scheint die Osadroi zu bewundern.«
»Er wird Lisanne stellen und sie töten.« Ajinas Stimme schwankte.
»Oder bei dem Versuch sterben. Er hat es mir versprochen.«
»Was zählt ein Eid aus seinem Mund? Hat er den Schatten etwa nicht
seine eigene Tochter geopfert?«
Ihre zusammengepressten Lippen bildeten einen Strich, als sie
nickte. »Lióla. Meine Schwester. Ich erinnere mich kaum an sie. Dass ihre Haut
wie Milch war, weiß ich noch. Alle nannten sie ›das Mondkind‹.«
»Ihr leugnet es nicht!«
»Es ist die Wahrheit«, flüsterte sie. »Aber eineinhalb Jahrzehnte
trennen uns davon.«
Helion atmete tief durch. Er überlegte, ob er eine geistige Übung
durchführen sollte, die ihn beruhigen würde. Aber er hatte das Gefühl,
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