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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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die ganze Welt sich gegen uns gewandt hatte.
Die freien Reiche sowieso, wegen der Dinge, die du aufgezählt hast. Viele
Fürsten waren von meinem Vater fasziniert, vor allem von seiner Macht. Manchmal
gab er ihnen, was sie wollten, oft auch nicht. Wenn sie uns fortjagten,
stifteten sie ein neues Gemälde. Meistens zeigte es sie in weitaus heroischerer
Pose, als ich sie in Erinnerung habe. Und auch die Schatten waren selten
freundlich zu uns. In Ondrien muss man sich nehmen, was man will, die
Schattenherren sind nicht für freimütige Gaben bekannt und scheren sich wenig
darum, wenn ihre sterblichen Gefolgsleute einander aus dem Weg räumen. Sie
wollen das sogar. Es ist ihre Art, jene herauszusieben, die stark genug sind
für die Unsterblichkeit. Also waren mein Vater und ich einander das Einzige,
was wir hatten.« Sie zögerte. »Nein, das stimmt nicht. Da war noch die Magie.
Sie war die Dritte im Bunde, stets ihm viel näher als mir, aber auch mir hat
sie manchen Blick gewährt. Zu dritt waren wir also, und so hätte es bleiben
können, unser ganzes Leben lang.«
    »Was ist geschehen?«
    »Verschlungene Pfade haben uns nach Ilyjia geführt. Nicht ganz
zufällig, nehme ich an. Vater hatte sofort Kontakt zu Ordensmarschall Giswon.
Ich glaube nicht, dass er von allein auf diesen Gedanken gekommen ist, also hat
dein oberster Herr wohl einige Dinge in Bewegung gesetzt.«
    »Ein anderes Schlachtfeld«, murmelte Helion.
    »Was meinst du?«
    »Nichts. Erzähl weiter, bitte.«
    »Wir waren in Akene. Anfangs lächelte ich über die Mondmutter und
ihre Schwesternschaft. Ich ging in ihren Tempel, um mich darüber lustig zu
machen. Ich verstand nicht, was wir in Ilyjia suchten, Vater schien keinen
interessanten Handel zu schließen, er wollte sich noch nicht einmal offen
zeigen. Mir war langweilig, und ich hatte nicht vor, mich in dunklen Zimmern
einschließen zu lassen. Ich wollte meinem Ärger Luft machen.«
    »Aber es kam anders?«
    Sie lachte leise. »Zunächst nicht. Ich habe einen ziemlichen
Aufstand im Tempel der Mondmutter verursacht. Heilige Gegenstände versteckt,
die Nähte an der Zeremonialkleidung aufgetrennt.«
    »Hat man dich erwischt?«
    »Ich war unvorsichtig. Ich wollte unbedingt Zeugin sein, wenn sich
Oberin Esmalla am Altar verbeugt und dann mit nacktem Hintern dasteht. Es kam
auch so, wie ich es geplant hatte, aber mein Lachen war zu laut und die
Tempelwachen zu schnell. Doch Esmalla war anders, als ich sie mir vorgestellt
hatte. Da waren weder schwülstige Betroffenheit noch Wut, stattdessen Enttäuschung
und Mitleid. Ich glaube, bis dahin hatte noch nie jemand Mitleid mit mir
gehabt. Deswegen habe ich damals erst begriffen, dass nichts ein deutlicherer
Ausdruck von Stärke ist, als wenn du Mitleid hast. Es hebt dich aus der Sphäre
deines eigenen Selbst hinaus, weitet deinen Geist. Jedenfalls, wenn es nicht
selbstgerecht ist.«
    »Was hat sie denn mit dir gemacht?«
    »Sie hat mir gesagt, ich solle wiederkommen, wenn ich reifer wäre.«
    »Das hätte mich eher verärgert als alles andere.«
    »Mich auch. Zunächst. Aber ich hatte ja viel Zeit zum Nachdenken.
Vor allem über etwas, das sich so sehr von allem unterschied, was ich bis dahin
erlebt hatte. Jedenfalls ging ich dann häufiger in den Tempel der Mondmutter.«
    »Ohne Streiche, nehme ich an.«
    »Ja. Um mit Esmalla zu sprechen. Sie hat etwas in mir genährt, von
dem ich bis dahin nicht wusste, dass ich es überhaupt hatte. Eine andere Art
von Stärke. Eine, die nicht auf der Kraft zur Zerstörung ruhte oder darauf,
jemandem seinen Willen aufzuzwingen. Die Gabe zu heilen.«
    »Aber dein Vater stand dem doch entgegen, mit dem gesamten Zeugnis
seines Lebens.«
    »Ja. Deswegen haben wir uns auch voneinander entfernt. Ich konnte
immer besser erfassen, wie schrecklich wirklich war, was er getan hatte. Auch
und gerade mit Lióla und mit meiner Mutter. Und somit auch mit mir. Monatelang
wollte ich ihn nicht sehen. Er hat mir Briefe geschickt, obwohl wir in
derselben Stadt lebten. Viele Seiten. Die meisten habe ich ungelesen verbrannt.
Aber das half meinem Schmerz nicht, und Esmalla erkannte das. Sie hat mir
erklärt, dass ich nur zwei Möglichkeiten hatte. Ich konnte vergessen, das würde
die Wunde vernarben, aber nicht heilen lassen. Jede Erinnerung hätte den
Schmerz neu aufbrechen lassen können. Oder vergeben.«
    »Aber jemandem zu vergeben, die eigene Mutter getötet zu haben …«
    Sie strich über seine Wange. »Esmalla war der Meinung, ich

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