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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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aus, hilflos. »So war es auch bei mir«, sagte sie. »Die
meisten von euch werden verzagen und vergehen. Aber manche werden in der
Finsternis erstarken. Eifert, den Schatten zu dienen, und eines Nachts könnt
ihr zur Dunkelruferin erhoben werden!«
    Jatzell lächelte schräg. »Gut memoriert. Aber dies ist doch keine
Gemeinde und auch nicht der rechte Ort für eine Predigt. Zumindest steht es
unsereins nicht an, hier von Weisheit zu sprechen.« Ergeben verbeugte er sich
vor den Osadroi.
    Lióla fühlte ihre Wangen glühen. Sie wagte nicht, den Blick zu
heben.
    Die Schattenherren wiesen sie nicht zurecht. Sie taten Schlimmeres.
Sie wandten sich ab. Gemeinsam schritten sie zu dem großen Fenster.
    Draußen sah Lióla Frauengestalten mit Fledermausflügeln
vorbeiflattern. Sie waren aus Finsternis geschaffen, so dunkel, dass man sie
selbst in tiefster Nacht wahrgenommen hätte, umso mehr jetzt, wo die Dämmerung
noch nicht ganz vergangen war und die Sterne am Himmel standen. Die
Seelenspiegel schwärmten aus, den Feind zu zermürben und seine Lebenskraft zu
rauben, um sie den Schattenherren darzubringen.
    Lióla atmete tief durch, wartete, bis sich ihr Puls beruhigte, bevor
sie sich Jatzell zuwandte. »Selten traf ich jemanden, der den Schatten so
vollkommen diente. Erlaubt Ihr mir, Euch zu besuchen, auf dass ich von Euch
lernen kann?«
    Nach Wochen, in denen er in Zelten geschlafen hatte, war ein
Bett eine Annehmlichkeit, die Helion eines Königs für würdig erachtete. Dabei
war Guardaja sicher kein Palast. Die Festung war aus wuchtigen Steinblöcken
errichtet, die ein wenig denen ähnelten, die die Ritterhalle der Mondschwerter
in Akene fügten. Schon der Hauptbau Guardajas war um ein Vielfaches größer.
Hinzu kamen die Türme und Kastelle, meist durch übermauerte Wehrgänge oder
Tunnel miteinander verbunden. In ihrer Gesamtheit versperrte die Anlage den
Falkenpass vollkommen, und die steilen Bergflanken sorgten dafür, dass kein
anderer Weg zu den Silberminen führte, die sie bewachte. Dennoch waren die
Räumlichkeiten im Innern der Festung beengt. Die Fenster waren hoch und schmal,
in den beiden unteren Stockwerken nicht mehr als Schießscharten und auch oben
kein Vergleich zu den Kunstwerken aus Buntglas, die die reichen Milirier so
liebten. Hierzulande schätzte man die Lichtmalerei, bei der die Helligkeit
komplexe Bilder schuf, wenn sie durch meisterlich gefügte Scheiben fiel. Die
aus verschiedenen Farben zusammengesetzte Figur eines Adlers, der mannshoch auf
der Ostterrasse thronte, wo er die ersten Sonnenstrahlen hundertfach
auffächerte, war das größte Bildnis dieser Art, das Helion bei seinem ersten
Rundgang durch Guardaja entdeckt hatte.
    Die Festung stand für die Vervollkommnung einer anderen Kunst, der
des Krieges. Wer sie aus der Ferne betrachtete, fand den Gedanken
unvorstellbar, jemand könne eine so wehrhafte Burg angreifen. Erst als der
Tross sie fast erreicht hatte, hatte Helion den Beweis dafür gesehen, dass es
dennoch geschah. Zinnen, sogar einzelne Türme waren zertrümmert. Katapulte
hatten die Mauern zernarbt. Auch Feuer war zum Einsatz gekommen, an der
Nordostseite waren die Quader schwarz vom Ruß. Ihren Stolz aber hatte man der
Festung nicht nehmen können. Die Pechnasen, aus denen die Verteidiger siedendes
Öl auf die Angreifer gießen konnten, reckten sich noch immer trotzig vor, und
Milirs Banner knallten im Wind. Es waren Hunderte, ein Schwarm gelber
Schwingen, die die beiden steigenden Hengste des Wappens zeigten.
    »Warum lächelst du?«, fragte Ajina neben ihm. Heute Nacht hatte sie
sich lebhaft unter den Fellen gewunden, aber jetzt wirkte sie wie eine
zufriedene Katze, die gleich losschnurren wollte.
    »Ich denke darüber nach, warum ich diesen Ort so schön finde. Die
meisten würden ihn als ungastlich beschreiben.«
    »Die meisten wachen nicht neben einer so hübschen Frau auf«,
versetzte sie und küsste ihn lange.
    Er strich durch ihr Haar und stellte sich vor, wie es in der Sonne
glänzte. Noch war es dunkel in der kleinen Kammer, und richtig hell würde es
wegen des schmalen Fensters den ganzen Tag über nicht werden. Aber das machte
nichts. Er trug Ajinas Bild im Herzen. Genüsslich sog er ihren Duft ein. Jeder
Mann an seiner Stelle wäre glücklich gewesen.
    Aber das war es nicht allein. Helion hatte das Gefühl, hier, wo die
Hörner jederzeit zur Schlacht rufen konnten, endlich bei seiner Bestimmung
angekommen zu sein. Wenn seine Mission nicht gewesen wäre, hätte er

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