Feinde der Krone
wenn das in diesen Zeiten stetigen Wandels so bleiben soll, brauchen wir eine weise Führung.«
»Zumindest in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu«, sagte Pitt in munterem Ton.
Nach kurzem Zögern verabschiedete sich Finch und ging mit raschen Schritten davon, die Schultern vorgeschoben, als müsse er sich seinen Weg durch eine Menschenmenge bahnen. In Wahrheit brauchte er lediglich an einem Kellner mit einem vollen Tablett vorüberzugehen.
Als Pitt mit Jack das Restaurant verließ, wären sie an der Tür fast mit einem Mann im Nadelstreifenanzug zusammengestoßen, der gerade hereinkam. Pitt wusste, dass das der Premierminister Lord Salisbury war. Ein Vollbart umrahmte sein langes, ziemlich betrübt wirkendes Gesicht, während er auf dem Kopf nahezu vollständig kahl war. Pitt war so gebannt, dass er erst nach einem Augenblick auf den Mann sah, der Lord Salisbury offensichtlich begleitete, auch wenn er ihm mit einem Schritt Abstand folgte. Er hatte kräftige, intelligente Züge, seine Nase war ein wenig gekrümmt, seine Gesichtshaut bleich. Flüchtig trafen sich ihre Blicke, und Pitt erstarrte, als er erkannte, mit welchem Hass ihn der Mann ansah, als wären sie beide allein im Raum. Alle Geräusche um sie herum versanken, die Unterhaltung, das Gelächter, das Klirren von Gläsern und Besteck auf Geschirr. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten und als gäbe es nur noch den Willen zu verletzen und zu zerstören.
Dann kehrte die Gegenwart mit ihrer Geschäftigkeit und den Menschen, die sich um ihre Angelegenheiten kümmerten, zurück. Salisbury und sein Begleiter gingen ins Restaurant hinein, während Pitt und Jack Radley es verließen. Nach etwa zwanzig Schritten fragte Jack: »Kennst du den Mann, der mit Salisbury gekommen ist? Wer ist das?«
»Sir Charles Voisey«, gab Pitt zurück und merkte erstaunt, wie rau seine Stimme klang. »Der Mann, der sich in South Lambeth um einen Sitz im Unterhaus bewirbt.«
Jack verhielt den Schritt. »Das ist doch Serracolds Wahlkreis.«
»Ja«, sagte Pitt mit ruhiger Stimme. »Ich weiß.«
Jack stieß den Atem langsam aus. Auf seinem Gesicht zeigte sich allmähliches Begreifen und ein Anflug von Furcht.
Kapitel 2
O hne Charlotte und die Kinder kam Pitt das Haus sonderbar leer vor. Ihm fehlten die Wärme, das Gelächter, die Aufregung, sogar die gelegentlichen Streitereien. Man hörte weder das Klappern von Gracies Absätzen auf dem Fußboden noch ihre trockenen Kommentare. Seine einzigen Gefährten waren die beiden Kater Archie und Angus, die sich auf dem Küchenboden zusammenrollten, wo die Sonne durch das Fenster fiel.
Doch als er sich an den Hass in Voiseys Augen erinnerte, war er in tiefster Seele erleichtert, dass seine Familie London verlassen hatte und sich an einem fernen Ort befand, wo weder Voisey noch ein anderes Mitglied des Inneren Kreises sie aufspüren würde. Sie konnte nirgendwo sicherer sein als dort, wo sie war: in einem Häuschen am Rande von Dartmoor. Dies Wissen würde es ihm ermöglichen, Voisey mit allen Kräften daran zu hindern, dass er den Unterhaussitz errang und von dort aus den Aufstieg zu einer Macht begann, die das ganze Land ins Verderben stürzen konnte.
Doch während er am Küchentisch saß und zum Frühstück Tee trank und Toast mit Orangenmarmelade aß, erschreckte ihn das Ausmaß der Aufgabe, die man ihm da gestellt hatte. Er tappte völlig im Dunkeln, alles war nebelhaft und ungreifbar. Er musste weder eine Erklärung für etwas finden noch ein Geheimnis aufdecken, es gab nichts Bestimmtes, wonach er hätte suchen können. Sein Wissen war seine einzige Waffe. Seit vielen Jahren befand sich der Unterhaussitz, um den sich Voisey
bewarb, fest in der Hand der Liberalen. Wessen Wahlentscheidung hoffte der Mann beeinflussen zu können? Er kandidierte für die Konservativen, die als Einzige hoffen durften, anstelle der Liberalen eine Regierung zu bilden, obwohl die Mehrheit zu der Ansicht neigte, Mr.Gladstone werde die Wahl gewinnen, auch wenn seine Amtszeit dann nicht von langer Dauer sein würde.
Pitt nahm eine zweite Scheibe des stark verbrannten Toasts aus dem Ständer, bestrich sie mit Butter und nahm einen großen Löffel von der hausgemachten Marmelade, deren kräftigen Geschmack er so liebte.
Hatte Voisey etwa die Absicht, die Stimmen der Mitte auf sich zu ziehen und damit seine Aussichten zu vergrößern? Oder wollte er die Ärmeren unter den Wählern den Sozialisten in die Arme treiben und die Linken auf diese Weise
Weitere Kostenlose Bücher