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Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sagte, und auch das war halb scherzhaft gemeint. Doch die Frage der Arbeitszeit erregte die Gemüter, und er merkte, dass viele der Männer auf Seiten der Sozialisten standen, obwohl kaum einer Namen zu kennen schien. Weder Sidney Webb noch William Morris wurden erwähnt und auch nicht der beredte und wortgewaltige Dramatiker George Bernard Shaw.
    Um sieben Uhr stand Pitt vor einem der Fabriktore. Die grauen Mauern der Gebäude erhoben sich in den von Rauch erfüllten Abendhimmel. In gleichmäßigem Rhythmus stampften Maschinen. Er spürte, wie die Rückstände von Säuren und Koksgas scharf in seiner Kehle brannten. Um ihn herum standen gut hundert Männer in verwaschenen und mehrfach geflickten braunen und grauen Kleidungsstücken, die an den Ärmeln ausfransten und an Ellbogen und Knien durchgescheuert waren. Trotz der milden Abendluft und obwohl ausnahmsweise keine kühle Brise von der Themse herüberwehte, trugen viele eine Mütze – vermutlich aus Gewohnheit. Sie bildete einen Teil ihrer Identität.
    Pitt fiel unter ihnen nicht besonders auf, da sein Hang zur
Ungepflegtheit wie eine Verkleidung wirkte. Er hörte die Männer lachen, hörte ihre groben, oft grausamen Scherze, und wieder fiel ihm die darunter verborgene Verzweiflung auf. Je länger er ihnen zuhörte, desto weniger konnte er sich vorstellen, wie Voisey mit seinem Geld, seinen Vorrechten, seiner gepflegten Art und jetzt obendrein noch mit seinem Adelsprädikat auch nur einen von ihnen auf seine Seite ziehen wollte, ganz zu schweigen von der Masse. Dieser Mann stand für alles, was sie unterdrückte und was sie, ob zu Recht oder nicht, als die Macht ansahen, die sie ausbeutete und sie um ihren gerechten Lohn brachte. Diese Vorstellung bereitete Pitt Sorgen, denn er hatte allen Grund, Voisey nicht für einen Träumer zu halten, der sich blind auf sein Glück verließ.
    Gerade, als die Männer allmählich unruhig wurden und laut zu überlegen begannen, ob sie nicht doch nach Hause gehen wollten, hielt etwa zwanzig Schritt von ihnen entfernt eine Mietdroschke an, nicht etwa eine private Kutsche. Pitt sah, wie der hoch gewachsene Voisey ausstieg und auf sie zukam. Eine sonderbare Beklemmung befiel ihn, als könnte ihn Voisey sogar in dieser Menge sehen und als könnte dessen Hass ihn über diese Entfernung hinweg aufspüren und erreichen.
    »Ach, kommen Sie doch noch?«, rief eine Stimme und zerriss die sonderbare Stimmung, die Pitt gefangen hielt.
    »Selbstverständlich!«, gab Voisey zurück und wandte sich mit hoch erhobenem Kopf und halb belustigtem Gesichtsausdruck den Männern zu. Pitt war für ihn ein namenloses Gesicht inmitten der Menge. »Sie haben doch Ihre Stimme zu vergeben, oder etwa nicht?«
    Ein halbes Dutzend Männer lachten.
    »Zumindest tut er nich so, wie wenn wir ihm wichtig wär’n!«, sagte einer, der einige Schritte links von Pitt stand. »Mir is ’n ehrlicher Mistkerl lieber wie ’n verlogener.«
    Voisey ging zu einem Flachwagen, der als eine Art Rednertribüne dienen sollte, und schwang sich mühelos hinauf.
    Die Männer richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn, doch war unverkennbar, dass sie ihm feindselig gesonnen waren und nur auf eine Gelegenheit warteten, seine Äußerungen in Frage zu stellen und ihn zu verhöhnen. Voisey schien allein gekommen
zu sein, doch dann fielen Pitt zwei oder drei Polizeibeamte auf, die sich im Hintergrund hielten. Außerdem war unübersehbar, dass ein gutes halbes Dutzend Neuankömmlinge die Menge im Auge behielt. Es waren unauffällig gekleidete vierschrötige Burschen, deren Geschmeidigkeit und Bewegungsdrang scharf von der Mattigkeit der Fabrikarbeiter abstach.
    »Sie sind gekommen, um mich zu sehen«, begann Voisey, »weil Sie wissen wollen, was ich zu sagen habe und ob ich etwas vorbringen kann, das es Ihnen wert ist, mir Ihre Stimme zu geben und nicht dem Kandidaten der Liberalen, Mr. Serracold, dessen Partei Sie schon so lange unterstützen, wie Sie sich erinnern können. Vielleicht erwarten Sie auch ein wenig Spaß auf meine Kosten.« Einige lachten, ein oder zwei buhten.
    »Nun, was erwarten Sie von einer Regierung?«, fragte Voisey, und bevor er die Frage selbst beantworten konnte, erschollen Rufe von allen Seiten. »Weniger Steuern!«, rief einer unter dem Jubel der anderen. »Kürzere Arbeitszeit! ’ne anständige Arbeitswoche, nich länger wie Ihre eigene.«
    Das Lachen, das jetzt ertönte, war unüberhörbar von Wut getragen.
    »Anständigen Lohn! Häuser, in die es nicht

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