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Feinde kann man sich nicht aussuchen

Feinde kann man sich nicht aussuchen

Titel: Feinde kann man sich nicht aussuchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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ich eine Freundin gehabt, die aus Vermont kam; sie hatte die
zweiflügeligen Ahornfrüchte immer »Hubschrauber« genannt.
    Jeannie Schmidt — eine winzige, vogelartige
Frau mit einer atemlos-haspeligen Stimme und einem dicken blonden Zopf, der ihr
über den Rücken hing — erklärte mir, ich sei diese Woche ihr erster Gast. Sie
zeigte mir ein großes, nach vorn gelegenes Zimmer, dessen Mobiliar aus echten
alten Stücken zu bestehen schien. Das Bad lag ein Stück den Flur hinunter und
besaß nur eine sehr rudimentäre Dusche. Jeannie — wie sie unbedingt von mir
genannt zu werden wünschte — entschuldigte sich mehrfach für den mangelnden
Komfort. Sie schien sehr übersteigerte Vorstellungen davon zu haben, was
Kalifornier in dieser Hinsicht gewöhnt sind, und war erstaunt, als ich ihr
erzählte, im ersten Jahr in meinem Haus hätte ich mit einer Toilette in einem
kalten Verschlag auf der hinteren Veranda vorlieb nehmen müssen. Wir einigten
uns auf einen äußerst maßvollen Preis für das Zimmer, und ich bat sie, das
Telefon benutzen zu dürfen, wobei ich versprach, Ferngespräche auf meine
Kreditkarte zu führen.
    Zuerst Mick. Mein Neffe war weder
daheim noch im Büro. Ich hinterließ die Nummer der Pension auf beiden
Anrufbeantwortern.
    Dann Noah Romanchek. Seine Sekretärin
bei der GGL erklärte, er sei am Morgen nach Bootlegger’s Cove geflogen und noch
nicht wieder zurück. Ich gab ihr ebenfalls die Nummer.
    Und schließlich Arnos Ritter. Der
Schriftsteller hatte eine sanfte Stimme mit einem Hauch von Südstaatenakzent;
er war gern bereit, mich zu empfangen, und beschrieb mir den Weg zu dem, was er
sein »Gruselhaus« nannte.
     
    Und es war ein Gruselhaus: dunkelroter
Backstein, mit Türmchen und pseudogotischen Fenstern und Buntglasscheiben, die
ziemlich blutrünstige religiöse Szenen darstellten. Das Schieferdach krönte ein
kunstvoller Schmiedeeisenaufsatz, der aussah wie zornig gen Himmel gereckte
Fäuste. Marmorne Stufen führten zu einer zweiflügeligen Eingangstür, ebenfalls
mit Buntglasscheiben, in diesem Fall eine Kreuzigungsszene. Als ich klingelte,
rechnete ich schon fast damit, daß mir ein buckliger Butler öffnen würde.
    Der Mann, der mich empfing, war ein
angenehmer Kontrast zu dem Haus: schlank, blond, mit zurückweichendem
Haaransatz und feingeschnittenen, sensiblen Gesichtszügen, bekleidet mit Jeans,
einem blauen Nicki und plüschgefütterten Mokassins. Seine lockere Art machte
die riesige, hohe Eingangsdiele weniger bedrohlich. Er führte mich in ein
Wohnzimmer, dessen Wände Bücherregale bedeckten, bedeutete mir, auf einem
Ledersofa Platz zu nehmen, und goß aus einer Kristallkaraffe Sherry in zwei
Gläser.
    Ich machte ihm ein Kompliment über das
Zimmer, während ich mir die Hände in der Nähe des Kaminfeuers wärmte.
    »In so einem Haus«, sagte er, »muß man
sich kleine Oasen der Behaglichkeit schaffen. Wahrscheinlich habe ich es nur
gekauft, um zu beweisen, daß man aus allem ein gemütliches Heim machen kann.«
    »Es wurde von einem der Gründer des
Stahlwerks erbaut?«
    Er reichte mir das eine Glas, ließ sich
mit dem anderen in einem Lehnsessel nieder und legte die Füße auf ein
Fußkissen. »Von Raymond Lewis. Der alte Lewis war ein religiöser Eiferer —
daher diese gewaltverherrlichenden Buntglasfenster — und ein zwanghafter
Verschwender — daher der ganze Rest. Es gibt hier sechs Schlafzimmer, sechs
Badezimmer, alle mit handbemalten Kacheln, einen Ballsaal im Obergeschoß und
eine Bowling-Bahn im Keller.«
    »Beeindruckend. Sie leben hier allein?«
    »Ich befinde mich, wie man so schön
sagt, beziehungsmäßig im Umbruch, und jemand Neuen zu finden, ist nicht so
einfach. Ich bin schwul, und die wenigsten Männer meiner sexuellen Orientierung
hängen in sterbenden Hüttenwerksstädten herum — es sei denn, sie stehen auf
besoffene, arbeitslose Stahlkocher. Aber es gefällt mir ganz gut, hier allein
vor mich hinzuwursteln; ich habe einen Haufen Bücher und Hobbies. Meine
Schußwaffensammlung gilt als eine der besten im ganzen Bundesstaat, und
außerdem restauriere ich auch gern alte Möbel.«
    »Lokalgeschichte zählt auch zu Ihren
Interessen, hat man mir gesagt. Stammen Sie hier aus der Gegend?«
    »Biloxi, Mississippi.«
    »Aber wie in aller Welt...?«
    »Wie in aller Welt ich hier gelandet
bin?«
    Ich nickte.
    »Na ja, wie so viele schwule Jungs drunten
im Süden habe ich mich erst mal jahrelang versteckt. Und wiederum wie so viele
bin ich schließlich in den

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