Feinde kann man sich nicht aussuchen
ist er kein besonders
sympathischer Mensch und schon gar kein Diplomat, und die Leute, mit denen er
sich umgibt, sind es auch nicht. Ihr Vorgehen kam bei den Leuten als
übertrieben hart und unsensibel an. Ich habe immer gedacht, er hätte seiner
Frau eine Vermittlungsfunktion übertragen sollen; sie hatte ja wohl eine sehr
gewinnende Art und hätte ihm sicher viel nützen können. Aber faktisch war sie
nicht lange genug hier —«
»Moment mal — Anna Gordon war hier in
Monora?«
Ritter war sichtlich verdutzt über
meinen scharfen Ton. »Ein paar Monate, zu Beginn der ganzen Aktion, aber dann
ging sie wieder zurück nach Kalifornien. Es kursierte das Gerücht, daß es in
ihrer Ehe kriselte.«
Ich ging im Geist mein Gespräch mit
Anna während unseres Strandspaziergangs am Tag ihres Todes noch einmal durch.
Was hatte sie gesagt, als ich sie gefragt hatte, warum sie Suits nicht an die
Stätten seines Wirkens begleitete? Sie hätten es einmal versucht, aber es sei
nicht gut gelaufen. Und ich hatte dabei das Gefühl gehabt, daß sie drauf und
dran war, mir etwas Wichtiges zu erzählen, sich dann aber dagegen entschied.
Später hatte sie dann behauptet, sie habe keinen Einblick in die Vorgänge in
Lost Hope und bei Keystone gehabt, weil sie und Suits sich zu der Zeit, als er
nach Pennsylvania gegangen sei, gerade auf eine vorläufige Trennung geeinigt
hätten und die Probleme erst nach seiner Rückkehr aus Nevada geklärt worden
seien. Und jetzt stellte sich heraus, daß sie mir in beiden Fällen ihren
Aufenthalt am Ort des Geschehens verschwiegen hatte.
Anna hatte noch etwas gesagt, was mir
interessant erschienen war, wo ich aber nicht weiter nachgehakt hatte, weil ich
dachte, es ginge mich nichts an: daß sie einiges anders gemacht hätte, wenn
ihre Ehe intakt gewesen wäre. Jetzt wünschte ich, ich hätte sie gefragt, was
sie damit meinte.
Ritter bestand darauf, daß ich mit ihm
aß — ein raffiniertes Kaviar-Lachs-Omelett und Salat — , und so war es schon
nach zehn, als ich wieder in die Pension zurückkehrte. Der Schriftsteller hatte
mir sonst nichts Überraschendes über Suits’ Tätigkeit in Monora mitzuteilen
gehabt, obwohl mich seine Schilderungen tief berührten. Er sprach von
erwachsenen Männern und Frauen, die weinten, als sie ihre Kündigungsschreiben
erhielten; von Arbeitern, die darum bettelten, für einen gekürzten Stundenlohn
weiter arbeiten zu dürfen; von gewerkschaftlichen Lebensmittel- und Kleidersammlungen;
von Familien, die ihr ganzes Hab und Gut auf Lastwagen luden, und von einem
Exodus wie in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Den Beschäftigten mit der
längsten Betriebszugehörigkeit waren Arbeitsplätze in den neuen Mini-Werken
angeboten worden, aber die wenigsten nahmen sie an; älteren Menschen fiel es
schwer, Wurzeln zu kappen, die zum Teil über Generationen zurückreichten. Aber
auch militante junge Arbeiter hatten die Angebote abgelehnt, weil der Lohn
unter Tarif lag; jetzt verdiente keiner von ihnen das, was er hätte haben
können, wäre er umgezogen.
Auf der Rückfahrt zur Pension fragte
ich mich, was ich wohl an Suits’ Stelle getan hätte. Ein Unternehmen gerettet,
aber die Leben der Beschäftigten ruiniert? Den Aktionären wieder Profite
gesichert, aber die Männer und Frauen, die für sie arbeiteten, einem
Hungerdasein preisgegeben? Diese Vorstellung lief meiner idealistischen Ader
zuwider, aber meine praktische Seite erkannte zu einem gewissen Grad die
Notwendigkeit und Unausweichlichkeit seiner Maßnahmen an. Und nachdem er schon
so lange in diesem Metier tätig gewesen war, hatte er wahrscheinlich den
menschlichen Aspekt gar nicht mehr an sich herangelassen.
Jeannie Schmidts großes Holzhaus war
dunkel, bis auf das Licht über der Tür und kleine Wandleuchten in den Fluren.
Auf dem Nachttisch in meinem Zimmer brannte ein schummriges kleines Lämpchen;
die Bettdecke war zurückgeschlagen, und auf meinem Kopfkissen lag ein Zettel.
Noah Romanchek wollte zurückgerufen werden.
Ich verließ das Zimmer wieder und schlich
auf Zehenspitzen durch den Flur zurück zur Treppe, wobei ich die quietschenden
Dielen zu umgehen versuchte und mit großer Präzision jede einzelne traf. Die
Treppenstufen knarrten laut, und ich mußte im Dunkeln um mich tasten, um den
Lichtschalter für die kleine Nische neben der Eingangsdiele zu finden, wo sich
das Telefon befand. Romanchek hatte seine Privatnummer hinterlassen, und er
meldete sich gleich beim ersten Läuten.
»Ich war
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