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Feinde kann man sich nicht aussuchen

Feinde kann man sich nicht aussuchen

Titel: Feinde kann man sich nicht aussuchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Al. Als er noch zur Schule
ging, war es sein größter Wunsch, Ingenieur zu werden. Und er hatte auch das
Zeug dazu. Aber Als Dad war Stahlarbeiter, und es war einfach ein
ungeschriebenes Gesetz, daß die Kinder von Stahlarbeitern in die Fußstapfen der
Eltern treten mußten. Als Al sich fürs College bewerben wollte, haben die
Lehrer es ihm ausgeredet, ihm gesagt, er sei dafür nicht gescheit genug. Er hat
dann eine Weile ein Teilzeitstudium gemacht, drunten in California, und in
Nachtschicht bei Keystone gearbeitet, aber das ist ein hartes Leben, und
schließlich hat er es aufgegeben. Von da an war er ein gebrochener Mann.«
    »Was ist aus Al geworden?«
    »Als das Werk geschlossen wurde, hat er
das Angebot abgelehnt, nach Alabama zu gehen. Er hat gesagt, vielleicht sei es
ja zu seinem Besten so. Er wollte weiter studieren. Aber es ist schwer, mit neununddreißig
noch mal anzufangen. Al hat immer nur daheim gesessen und getrunken, und eines
Tages ist er verschwunden.« Sie sagte es ganz sachlich, aber ihre Lippen wurden
schmal vor Schmerz. »Wo er auch sein mag — ich tröste mich immer mit dem
Gedanken, daß er dort vielleicht sein Ziel verwirklicht.«
    »Das sollten Sie sich auch sagen.« Es
war wahrscheinlich der einzige Trost, der ihr je zuteil werden würde. Ich hatte
Hunderte von Als in den Straßen von San Francisco und anderen Großstädten
gesehen: auf Bänken schlafend, in Hauseingängen hockend, in den Schlangen vor
den Obdachlosenasylen.
    »Ja. Was immer aus ihm geworden ist, er
ist bestimmt besser dran als hier. Hätte schon vor Jahren weggehen sollen.
Dieses Werk« — sie sah nach Süden, wo die Schlote über den Baumwipfeln
aufragten — »die kleinen Leute hier in der Stadt sind doch von denen nur
verheizt worden. Für die Betriebsleitung war das Leben von unsereinem doch
nicht mehr wert als eine Tonne Kohle. Und längst nicht soviel wie eine Tonne
Erz.«
    Ich ließ meinen Mietwagen bei der
Pension stehen und ging zu Fuß hinunter zur River Street. Die Luft war an
diesem Morgen frisch; Annas Cape, das mich in Nevada mehr als warm gehalten
hatte, bot hier kaum Schutz. Blätter schwebten von den Ahornbäumen und Ulmen
herab und raschelten unter meinen Füßen — feuerrot, burgunderrot und ein Gold,
das exakt der Farbe von Kerzenlicht entsprach. Droben auf dem Hügel bei
Jeannies Pension waren die Häuser groß, mit umlaufenden Veranden unten und
Schlafveranden im Obergeschoß. Obgleich viele in Apartments aufgeteilt worden
waren und eines neuen Außenanstrichs bedurften, waren sie doch einigermaßen in
Schuß. Doch je weiter ich bergab kam, desto kleiner und ärmlicher wurden die
Häuser; alle waren in schlechtem Zustand, und manche standen leer und zeigten
deutliche Spuren von Vandalismus. Ich dachte, wenn man einmal von Arnos Ritters
hochherrschaftlichem Gruselhaus zum Fluß hinunter ging, hatte man das gesamte
sozioökonomische Spektrum der Stadt durchschritten.
    Herb Paces Haus war kaum mehr als ein
Schuppen, direkt am Bahndamm. Es war mit uralten, rußgeschwärzten Alu-Blechen
verkleidet; eine verschossene Streifenmarkise überdachte das Frontfenster; ein
verschlissenes Sofa stand auf der Eingangsveranda. Ich stieg hinauf und drückte
auf die Klingel. Sie schrillte laut genug durchs Haus, um einen schwer
verkaterten Mann zu wecken, aber niemand öffnete mir.
    Nachdem ich noch ein paarmal geläutet
hatte, beschloß ich, zur Hauptstraße hinaufzugehen. Jeannie Schmidt hatte
erwähnt, daß Pace Stammgast im Spirituosenladen und in McGlennon’s Pub war;
vielleicht begann er sein Trinkertagwerk ja schon früh. McGlennon’s Pub öffnete
erst um elf, aber im Spirituosenladen zwei Ecken weiter florierte das Geschäft
bereits. Während ich mich dem Laden näherte, kamen fünf Leute mit Taschen und
Tüten heraus; drinnen taten sich sechs weitere Kunden um. Ich fragte die
großmütterliche Frau an der Kasse, ob Pace heute schon dagewesen sei. Sie
deutete auf die Tür. »Ist gerade weg.«
    »Wie sieht er aus?«
    »Grau. Graue Haare, graues Gesicht,
grauer Mantel. Karierter Schal. Eine Flasche Kessler’s in der Leinentasche;
wird ihm aber sicher nicht für den Tag reichen.« Letzteres sagte sie ganz
neutral, aber aus ihren Augen blitzte Boshaftigkeit. Die Leute hier in Monora
mochten Suits für das hassen, was er ihrer Stadt angetan hatte, aber einige
zumindest waren sich auch über Paces Beitrag zum Niedergang des Werks im
klaren.
    Ich bedankte mich und eilte nach
draußen. Ein Mann im grauen Mantel

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