Feindesland
entscheidet ab sofort offiziell, was Kultur ist.«
»Das ist jetzt ein Witz, oder?«
Jochen lacht nicht. Mario ebenso wenig. Jochen fasst Hartmut an der Schulter. »Ich glaube, ihr habt nicht mitbekommen, wie viel sich gerade verändert, oder?«
Ich denke an unsere Zeit in Hohenlohe, die sich so fern und unwirklich anfühlt. An unsere Tournee über die Autobahn. An Gabi Klemm, an Dr. Klaas Otto, an den Gesundheitsterror, an Hartmuts »Manifest der Unvollkommenheit«, an Herrn Twitter und das Finanzamt, das uns alles genommen hat. Sie hören anscheinend nicht auf. Sie lassen uns nicht in Ruhe.
»Kommt!«, sagt Jochen, »wir nehmen euch erst mal mit. Oder müsst ihr schnell heim?«
»Nein«, sagt Hartmut und schaut am Reichstag hinauf, als braue sich in ihm Gefahr zusammen.
»Dann zeigen wir euch jetzt unsere neue Bude. Und erzählen euch mal was über die Hauptstadt.«
Wie vor 15 Jahren
Als wir Jochens und Marios neue Wohnung betreten, bekomme ich einen Schwindel. Einen Schwindel, wie man ihn bekommt, wenn man nicht etwa zehn Meter nach oben, fünf Meter nach unten oder drei Meter zur Seite, sondern mit einem Mal fünfzehn Jahre in die Vergangenheit geschleudert wird. Die drei Zimmer, Küche, Bad sind so eingerichtet wie die Wohnungen unserer Eltern, als wir noch zu Hause lebten. Schwarze Schrankwand mit Glasvitrine, Couchen aus Wildleder, eine klobige, in ein »Rack« eingebaute Stereoanlage. Ich bin kein Experte für Alltagsdesign, aber alle Gegenstände wirken, als seien sie zwischen zehn und zwanzig Jahre alt. Die Pils-, Alt- und Weingläser in der Vitrine, die Vorhänge, der rötlich-braune Teppich, der Esstisch mit den Stühlen, deren hohe Lehnen in der Mitte einen Stoffbezug haben. Vor allem aber die Technik. Wir sind Jochens Vorliebe für VHS-Videos und Original-Musikkassetten gewöhnt, aber in diesem Heim ist wirklich alles alt. Der Fernseher, dessen Gewicht und Maße heute von manchem umweltfreundlichen Kleinwagen unterboten werden. Die Küchengeräte, Ceranfeld zwar, aber Ceranfeld der allerersten Generation. Eine Mikrowelle von den Ausmaßen eines Geldspielautomaten. Ein eckiges grünes Tastentelefon mit weißen Zahlen auf schwarzen Tasten und einer Schnur, die sich in sich selbst verdreht. Ein Plattenspieler. Und was das Beste ist: ein Spielzimmer, von dem Jochen ganz genau weiß, dass es mich dem Orgasmus nahe bringen wird und das er deshalb erst zum Schluss öffnet. Da stehen sie, auf Schreibtischen und in einem flachen, langen TV-Schrank untergebracht, angeschlossen an graue, staubige Monitore und einen weiteren riesigen, brummenden Fernseher der zehnten Generation vor LCD und Plasma: Nintendo Entertainment System, Master System, Mega Drive, Super Nintendo, PC-Engine, Neo Geo, Jaguar. C64, Atari ST, Commodore Amiga und ein 386er mit wackeliger Seitenverkleidung. Sämtliche Hardware der alten Zeiten, als Helmut Kohl noch Kanzler war und Männer wie Marco Bode oder Oliver Bierhoff zum Nationalteam gehörten. In den Regalen an den Wänden: originalverpackte Spiele, ordentlich sortiert, Hunderte davon, antik und voller Aura, sogar für den C64 sind welche dabei, diesen Rechner, den man immer nur mit Kopien auf wabbeligen 5 "-Zoll-Disketten fütterte. Bei Jochen stehen diese Spiele in ihrem alten Originalkleid im Regal, die obskursten Titel. Bangkok Nights, Barbarian, Target Renegade, riesige Kartons für 144 Kilobyte kleine Spielchen. Ich habe Tränen in den Augen. Hartmut auch. Jochen gibt uns Limonade von Sinalco und Haselnusswaffeln von ALDI.
»Wir haben für uns einen Weg gefunden«, sagt Jochen. »Wir leben in der Vergangenheit. Mindestens 15 Jahre zurück. Älter geht auch. Das hat mehrere Vorteile. Es ist preisgünstig, es entlastet von dem Zwang, alles mitkriegen zu müssen, und es verschafft einem mehr Zukunft. Viel mehr Zukunft. Ich meine, überlegt euch das mal, allein hier in diesem Raum: Nintendo 64, Game Cube, Dreamcast, Xbox: Das liegt alles noch vor uns. Und wir wissen es schon!«
»Ihr schiebt auf...«, sagt Hartmut, das Konzept begreifend.
»Ja, wir schieben auf. Wir genießen den Aufschub. Wir haben gerade erst Super Mario World 2 auf dem Super Nintendo durchgespielt. Die nächste große Innovation danach - das Mario-Spiel auf dem N64 - ist vor dreizehn Jahren erschienen, für uns dauert es aber noch zwei, bis wir damit anfangen. Zwei Jahre Vorfreude, das ist doch super!«
Im Wohnzimmer wird eine Platte aufgelegt. Also tatsächlich aufgelegt. Es knistert ein wenig,
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