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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland
Autoren: Oliver Uschmann
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dann singt Michael Stipe »Shiny Happy People«. Jochen pfeift mit: »>Out Of Time< ist ein Meisterwerk«, sagt er, »für uns ist es noch fast neu.«
    Ich gehe ins Wohnzimmer, lasse mich ins Wildleder sinken und beobachte das Vinyl, wie es sich auf dem Plattenteller dreht. Das sind glückliche Menschen. Ihre Fenster zeigen auf den Landwehrkanal.
    Mario geht in die Küche und schiebt ein paar Baguettes in den Ofen. »Die Nahrung ist natürlich nicht fünfzehn Jahre alt«, sagt er, »aber wir bemühen uns, nur Produkte zu kaufen, die seither unverändert geblieben sind.«
    Er hält die Packung hoch. Schlichtes Tomatenkäsebaguette für 1,29 Euro. Das hat sich noch nie verändert. Mein Magen bekommt Vorfreude. Der Videorekorder unter dem Fernseher springt mit einem lauten Knirschen und Zirpen an.
    »Airwolf«, sagt Jochen, »läuft in Wiederholung. Zeichnen wir auf.«
    Hartmut wirft sich zu mir auf die Couch. Jochen setzt sich uns gegenüber: »So, und ihr habt es alles noch nicht mitbekommen?« »Was?«, fragen wir. »Was in der Hauptstadt los ist?«
    »Wir sind erst vor drei Wochen angekommen. Seither suchen wir Jobs, leben aus Kartons und sehen zu, vor unserer Haustür nicht angeschossen zu werden.«
    Jochen schmunzelt: »Das mit den Jobs kann schwierig werden.«
    »Warum?«
    »Weil die Firmen alle kein Geld mehr haben. Zumindest die, in denen unsereins so arbeitet.«
    »Das haben sie doch immer schon behauptet.«
    »Ja, aber jetzt ist es wahr«, sagt Jochen und zieht seine Beine auf die Couch. »Die Finanzkrise hat vieles möglich gemacht. Es gibt jetzt ein neues Regierungsprogramm: die Koalition der Gerechtigkeit. Es soll das Land verändern. Die Aggressionssteuer war der zweite Schritt. Den ersten haben sie vor drei Monaten gemacht. Sie haben den Mindestlohn durchgesetzt. Ausnahmslos, für alle Branchen. Ihr wisst schon, für die Branchen, die sowieso nie gezahlt haben. Aber jetzt kommt's: Die haben das rückwirkend getan. Rückwirkend auf drei Jahre. Drei Jahre im Nachhinein müssen nun alle ihren Leuten die Differenz zu dem bezahlen, was ihnen zugestanden hätte. Redaktionen, Agenturen, Radiosender. Ihr wisst, was das für die bedeutet. Die hatten doch nur Praktikanten, Volontäre, 400-Euro-Kräfte.«
    »Und was machen die jetzt?«, fragt Hartmut, während Mario die Baguettes auf Tellern hereinträgt.
    »Die schließen!«, sagt Jochen, »reihenweise. In den letzten Wochen haben hier zwanzig Agenturen dichtgemacht. Plattenfirmen, Geschäfte, Fitnessstudios, Freeclimbinghallen, alles dicht, dicht, dicht. Vor allem die kleinen. Alles stirbt.«
    »Und wieso kannst du dann überhaupt noch beim Radio über Geld diskutieren?«, fragt Hartmut Mario.
    »Weil Deutschlandradio Kultur ist. Die konnten schon immer gut zahlen. GEZ und Steuern versiegen nie. Außerdem sind Kulturinstitutionen von dem Gesetz ausgenommen, weil sie überleben sollen.«
    »Und was Kultur ist ...«, sagt Jochen.
    »... bestimmt das Moralministerium«, ergänzt Hartmut.
     
    »Genau!«
    »Weil nun zu viele Firmen schließen, wollen sie die Steuerverluste woanders reinholen. Deswegen wahrscheinlich die Aggressionssteuer.«
    »Potzblitz«, sagt Hartmut.
    »Geiles Baguette«, sage ich, beiße und kaue. Dann essen wir alle einen Moment schweigend vor uns hin, trinken Sinalco und lauschen R.E.M.s großem Hitalbum von 1991.
    »Es gab ein paar Firmen, die sich gewehrt haben«, sagt Jochen mampfend. »Ein Techno-Label aus Kreuzberg etwa. 15 Mitarbeiter, nur zwei davon über Mindestlohn. Die wollten weitermachen, doch der Staat hat sie nicht gelassen. Hat nach vier Tagen die Räume gestürmt und alles beschlagnahmt. Jetzt sind sie arbeitslos, aber der Minister sagt, man könne bei dem Gesetz keine Ausnahme machen. Die Menschen müssten lernen, sich nicht selbst auszubeuten. Der Sinn für das Soziale müsse wieder geweckt werden. Die unsolidarischen Jahre seien nun mal vorbei. Es ginge um das richtige Bewusstsein.«
    Michael Stipe singt: »Im losing my religion.«
    Ich stöhne vor Befriedigung ob des Baguettes, das sich seit 15 Jahren nicht verändert hat.
    »Viele Firmen tricksen aber auch«, sagt Mario. »Besonders die großen. Zahlen genauso wenig wie vorher, schreiben dann aber weniger Arbeitsstunden auf. In Wirklichkeit bleiben die Angestellten genauso lange da wie immer.«
    Ich denke an Caterina, die 1250 Euro kriegen soll. Wie wenig müsste sie wohl arbeiten für das Geld? Offiziell?
    »Und das überprüft dann keiner?«, fragt Hartmut.
    »Noch
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