Feine Familie
verantwortlich machen, und Croxley dankte dem Himmel, daß es nicht seine Idee gewesen war, diesen ungehobelten Kerl in der König- Albert-Suite unterzubringen.
Während er sich noch zu seinem Glück gratulierte, kam ein Arzt die Treppe herunter und überbrachte ihm die Botschaft, Lord Petrefact habe das Bewußtsein wiedererlangt und wünsche ihn zu sprechen. Aus seinem Gesichtsausdruck schloß Croxley, daß sich Lord Petrefacts Gesundheitszustand rapide verbessert und seine Laune sich im selben Maß drastisch verschlechtert haben mußte.
»Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig«, meinte der Arzt. »Er ist noch nicht wieder ganz er selbst.«
Beim Hinaufgehen überlegte Croxley, was diese rätselhafte Bemerkung bedeuten mochte. Zu seiner großen Überraschung traf er Lord Petrefact in einem Zustand vergleichsweise milden Zorns an. Mrs. Billington-Wall hatte das Heft in die Hand genommen.
»Sie werden hier liegen bleiben, bis es Ihnen bessergeht«, erklärte sie Lord Petrefact unangenehmerer Gesichtshälfte mit einer Courage, die darauf schließen ließ, daß sie im Krieg wirklich Lazarettschwester gewesen war und das Leben an der Front miterlebt hatte. »Ich werde nicht zulassen, daß man Sie verlegt, bevor ich nicht die Gewißheit habe, daß Sie sich von diesem schrecklichen Anschlag erholt haben.«
Lord Petrefact starrte sie an, sagte aber nichts. Anscheinend wußte er, wann ihm jemand gewachsen war. »Und Sie dürfen ihn auf keinen Fall aufregen«, sagte sie zu Croxley. »Höchstens zehn Minuten, dann gehen Sie wieder hinunter.«
Croxley nickte dankbar. Zehn Minuten in Lord Petrefacts Gesellschaft waren reichlich. Unter den gegebenen Umständen waren sie zu reichlich, aber immer noch besser als vierzig Minuten.
»Wer zum Teufel war denn das?« fragte Lord Petrefact leise, nachdem die Dame verschwunden war.
»Mrs. Billington-Wall«, sagte Croxley, der in dieser Situation stur wörtliche Antworten für die beste Verteidigung hielt. »Die Witwe des verstorbenen Brigadegenerals Billington-Wall, Distinguished Service Order, Mitglied der ...«
»Der Stammbaum dieser Hexe interessiert mich nicht. Ich will wissen, was sie hier zu suchen hat.«
»Soweit ich feststellen kann, kümmert sie sich um Sie. Ansonsten führt sie die Besuchergruppen durchs Haus, aber heute hat sie sich freigenommen ...«
»Schnauze!« brüllte Lord Petrefact, ohne an seinen Kopf zu denken. Dann sank er aufjaulend in die Kissen zurück. Croxley hielt den Mund und saß, den Blick voll ehrerbietiger Abneigung auf den alten Mann gerichtet, einfach nur da. »So sagen Sie doch was«, stöhnte Lord Petrefact. »Wenn Sie darauf bestehen. Erst befehlen Sie mir, den Mund zu halten, und wenn ich gehorche, beschweren Sie sich, daß ich nichts sage.«
Lord Petrefact beäugte seinen Sekretär mit unverhohlenem Haß. »Croxley«, sagte er nach einer Weile, »während unseres langen Beisammenseins hat es Augenblicke gegeben, in denen ich ernstlich mit dem Gedanken gespielt habe, Sie zu entlassenaber ich kann Ihnen versichern, daß ich es noch nie so ernstlich erwogen habe wie jetzt. Also, warum liege ich im ersten Stock?«
»Mrs. Billington-Wall«, sagte Croxley. »Ich habe versucht, es ihr auszureden, aber Sie haben sie ja selbst erlebt.« Lord Petrefact nickte. »Und was ist davor passiert?« Croxley beschloß, eine Neuauflage des Mund-zu-Mund- Mißverständnisses tunlichst zu vermeiden und die Sprache auf die Ursache zu bringen. »Soll ich ganz von vorne beginnen?«
»Ja.«
»Also, es begann alles damit, daß dieser Yapp beschlossen hat, ein Bad zu nehmen ...«
»Ein Bad?« fragte Lord Petrefact und verdrehte die Augen. »Ein Bad?«
»Ein Bad«, wiederholte Croxley. »Anscheinend hat er den Heißwasserhahn aufgedreht und gewartet, bis die Wanne fast voll war. Dann stieg er hinein und ...« Lord Petrefact hörte längst nicht mehr zu. Jetzt war ihm klar, daß er Yapp falsch eingeschätzt hatte. Der Mann war keineswegs der Schlappschwanz, für den er ihn gehalten hatte. Wenn dieser Mensch einzig und allein dadurch, daß er ein Bad nahm, eine ganze Kette von Ereignissen in Gang setzen konnte, die mit der totalen Verwüstung eines Zimmers samt Inventar, ganz zu schweigen von dem Absturz eines extrem schweren und wertvollen Kristallüsters, endete, dann stellte er eine ernstzunehmende Gefahr dar. Mehr noch, er war eine menschliche Sintflut, ein wandelndes Katastrophengebiet, ein Mann mit Talenten, deren Irrsinn jegliches Vorstellungsvermögen
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