Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 2
Mörder, Vergewaltiger, Gewohnheitsdiebe und Räuber – Männer, die man zur
Festung der Verzweiflung geschickt hatte, weil an
ihrem Fall etwas Ungewöhnliches war oder weil ein
Richter ihnen mehr Leiden wünschte, als schnelles
Hängen ihnen zufügen würde. Diese Leute waren für
Tal entbehrlich, aber am Anfang würde er starke,
skrupellose Männer brauchen, falls irgendeiner von
ihnen überleben wollte.
Also tat er sein Bestes, alle am Leben zu erhalten.
Er fand Ausreden, um Gefangene aus ihren Zellen zu
holen, wie zum Beispiel die Sache mit den Bienen
oder um Bruchholz von der Viehweide zu räumen
oder Feuerholz für den kommenden Winter zu hacken. Alle kamen auf diese Weise wieder einmal an
die frische Luft und erhielten ein wenig Bewegung.
Er überredete Zirga sogar, dass die Männer sich zum
Mittsommerfest – Banapis – zu einer kleinen Feier
im Hof versammeln durften. Mehrere Gefangene
weinten ganz offen vor Freude, dass sie einen Tag
draußen verbringen und dieses gute Essen genießen
durften.
Keiner von diesen Männern würde fähig sein zu
kämpfen, wenn sie ihre Flucht begannen, und einige
würden unterwegs sterben. Aber Tal würde dafür
sorgen, dass sie so lange wie möglich überlebten.
Eines Abends – es ging auf den Herbst zu – saß
Will zusammen mit Tal an dem kleinen Tisch in der
Küche. Er sagte: »Ich habe heute mit Donal gesprochen.«
»Wie geht es ihm?«
»Der Husten hat aufgehört. Er dankt dir für den
Tee, den du ihm geschickt hast.«
»Es ist ein altes Familienrezept«, sagte Tal.
»Weißt du was? Diese Männer würden für dich
sterben, Tal.«
Tal nickte.
»Du hast ihnen Hoffnung gegeben.«
Tal schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich
bete darum, dass das keine Grausamkeit war.«
»Ich auch.« Will schwieg und biss ein Stück
Schinken ab. Nachdem er es heruntergeschluckt hatte, sagte er: »Erinnerst du dich daran, wie wir uns
kennen gelernt haben?«
Tal nickte.
»Du sagtest damals, ich wäre ungewöhnlich vergnügt für einen Mann, der dazu verdammt wurde, auf
diesem Felsen zu leben‹. Erinnerst du dich noch?«
Tal nickte abermals.
»Damals hatte ich nichts zu verlieren. Jetzt bin ich
nicht mehr so glücklich dran, wenn du verstehst, was
ich meine.«
»Ich verstehe«, erwiderte Tal. »Jetzt hast du das
Gefühl, du hättest etwas zu verlieren.«
»Ja«, bestätigte Will. »Ich habe das Gefühl, ich
hätte etwas zu verlieren.«
»Hoffnung.«
»Hoffnung«, stimmte Will zu. »Also, kommen wir
gleich zum Thema. Wann werden wir fliehen?«
Tal schwieg einen Moment, dann sagte er: »Im
nächsten Frühjahr. Ich weiß nicht genau, wann, aber
wir fliehen am Tag, nachdem das erste Schiff gekommen ist.«
»Wir werden ein Schiff kapern?«
»Nein«, erwiderte Tal. »Es geht den Männern jetzt
besser als vor ein paar Jahren, aber sie könnten nicht
gegen Zirgas vier Wärter und ein Schiff voll gesunder Seeleute ankommen. Aber es gibt einen Grund,
wieso ich am Tag nach dem nächsten Schiff fliehen
will, und den werde ich dir verraten, wenn die Zeit
gekommen ist.«
»Und das ist wann?«
Tal grinste. »An dem Tag, an dem im Frühjahr das
erste Schiff kommt.«
Will seufzte und fand sich damit ab, weitere sechs
Monate warten zu müssen. Immerhin hatte er schon
zwölf Jahre hinter sich.
Fünfzehn
Flucht
Tal beobachtete.
Das Ruderboot legte vom Schiff ab, und Zirga
wartete mit zwei Wärtern – wie immer Anatoli und
Kyle – am Kai, ob ein neuer Gefangener gebracht
würde.
Tal sah vom Eingang der Festung aus zu und hielt
sich dabei im Schatten. Will stand hinter ihm und
beobachtete ebenfalls, was geschah.
Die Seeleute ruderten das Schiff zum Kai, und Tal
sah, dass tatsächlich ein Gefangener darin saß. Wie
schon bei Tals Ankunft schafften die Seeleute den
Gefangenen rasch vom Boot und die Leiter hinauf.
Und wieder las Zirga die Papiere nicht am Kai, sondern wies den Gefangenen an, ihm den Hügel hinauf
zur Festung zu folgen.
Tal spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Es war etwas Vertrautes an dem Gefangenen, an
der Art, wie er sich bewegte, und an seiner Haltung.
Noch bevor die Züge des Mannes wirklich zu erkennen waren, wich Tal zurück und sagte zu Will:
»Komm mit.«
Sie gingen wieder in die Küche. Dort saß Royce
auf dem Stuhl und schlief, den Kopf auf dem Tisch,
eine leere Branntweinflasche neben sich. Eine von
Tals Entdeckungen bestand darin, dass der uralte
Weinkeller des Adligen, der einst diese Festung errichtet hatte, immer
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