Feldpostnummer unbekannt
achte Kleebach fehlten: Gerd und Fritz, die Zwillinge, die sich nicht nur äußerlich wie aufs Haar glichen, verhindert durch den Feldzug in Frankreich. Es war ein stillschweigendes Abkommen, nicht über sie zu sprechen, aber der Vater brach es jetzt, als er zurückkam und verlegen einen großen, weißen Fliederstrauß auspackte.
»Von Gerd«, sagte er.
»Wieso?« fragte die Mutter.
»Er hat es mir aufgetragen und hat allen anderen verboten, dir weißen Flieder zu schenken.« Arthur Kleebach lächelte nachdenklich. »Weil es deine Lieblingsblumen sind …«, setzte er hinzu, »und dann noch etwas«, sagte er, als er merkte, wie schwer er seiner Frau die Abwesenheit der Zwillinge machte, »ein Brief von Gerd …«
»Oh«, erwiderte Maria Kleebach.
»Hier, deine Brille, Mutter«, sagte Achim.
Sie hielt den Umschlag wie unschlüssig fest. Er zitterte leicht in ihren Händen. Es waren Hände, die weich waren und rau, die streicheln konnten und festhalten.
»Gerd …«, sagte sie leise. Als sie den Brief behutsam öffnen wollte, klingelte es. Vater Kleebach sah auf die Uhr.
»Schon zwölf?« sagte er, »das ist Rosenblatt …«
»Was will denn der bei uns?« fragte Frau Kleebach.
»Bitte treten Sie doch ein, Herr Rosenblatt«, begrüßte der Mann den Gast.
»Heil Hitler, Herr Ortsgruppenleiter!« rief Achim stramm.
»Ich will nicht stören«, sagte Pg. Rosenblatt, bevor er störte.
Er stammte aus dem Nachbarhaus und lief meistens in der Uniform herum, vielleicht, weil er unter seinem Namen litt und beweisen wollte, daß er trotzdem lupenreiner Arier sei. Er war vielleicht angenehmer als andere Hoheitsträger, aber nicht minder banal.
»Herzlichen Glückwunsch!« begrüßte er Mutter Kleebach und schüttelte ihr die Hand. »Außerdem habe ich eine angenehme Pflicht zu erfüllen.« Er stand in der Mitte des Raums und gab sich wie vor einem Rednerpult. »Frau Kleebach«, sagte er, »ich habe Ihnen die Grüße der Partei zu überbringen … und den Dank des Führers abzustatten …«
»Mir?« fragte die Mutter hilflos und ein wenig verwundert …
Bevor Maria Kleebach erfuhr, daß ihr heute das Mutterkreuz verliehen werden sollte, war beim Zustellpostamt Charlottenburg ein Einschreibepäckchen eingegangen, dessen Inhalt die Beamten nur zu gut kannten: Eine Brieftasche, eine Uhr, ein Ring vielleicht, ein paar Fotografien und eine Handvoll Briefe. Es waren die letzten Habseligkeiten eines gefallenen, deutschen Soldaten, und sie waren an die Adresse der Kleebachs Ecke Lietzenburger/Wielandstraße gerichtet.
Und der Vertreter des Mannes, der heute Silberhochzeit feierte, machte sich unter wehenden Fahnen hindurch, an marschierenden Kolonnen vorbei, auf den schweren Weg in die Wohnung seines Kollegen …
Gerade als Pg. Rosenblatt in der guten Stube der Kleebachs zu einer kurzen, bedeutungsvollen Rede ansetzen wollte, wurde der duftende Gänsebraten aufgetragen, denn die Nachbarin, die in der Küche mithalf, war der Meinung, daß sich ein Orden immer verleihen ließe, gebratenes Fleisch aber rechtzeitig auf den Tisch gehöre.
Weil der Ortsgruppenleiter zu den Menschen gehörte, die einen Anfang nur umständlich und das Ende nie finden können, rückte er, ohne sein Zutun, zum Gast auf und wurde vom Hausherrn in die Mitte der Tafel gebeten.
»Also dann, prost!« sagte Vater Kleebach und hob sein Glas.
»Ach, das duftet ja lecker«, erwiderte der Hoheitsträger, und hielt jetzt doch den Zeitpunkt für gekommen, stand auf und begann: »Ich darf mich ganz kurz fassen …«
Sie alle sahen ihn an, und unter ihren Blicken schien Pg. Rosenblatt zu wachsen, schien er so markant zu werden, wie er sein wollte.
»Meine liebe Frau Kleebach«, hob er die Stimme, »es tut mir leid, daß ich in Ihre Familienfeier eingedrungen bin … aber betrachten Sie mich bitte als den Stellvertreter unserer Volksgemeinschaft …«
Mutter Kleebach lächelte ihm zu, während sie ihm das knusprige Bruststück des Gänsebratens auflegte, wie es sich für einen Gast gehörte. Sie gönnte es ihm. Aber sie spürte doch einen leisen Stich dabei, denn schließlich saß er hier am Tisch als Stellvertreter von Gerd und Fritz, der Zwillinge, die der Feldzug im Westen vom Jubiläumstag ihrer Eltern fernhielt.
Aus der Blumenecke ragte der weiße Flieder, der eine eigene Vase und den besten Platz erhalten hatte. Wenn Mutter Kleebach hinsah, glaubte sie nur Flieder zu sehen, weil Gerd an sie gedacht und sich bei den anderen ausbedungen
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