Feldpostnummer unbekannt
woran ich nicht zweifle. Ihr hört ja sicher aus den Sondermeldungen, wie rasch es hier vorwärts geht. Und es ist auch gar nicht so schlimm, wie es aussieht …«
Das Blatt zitterte erst leicht und dann stärker in Mutter Kleebachs Hand. Sie glaubte, durch eine dünne Wolke zu sehen, aber es waren nur die letzten Schwaden des kalt werdenden Bratens. Ihre Lippen zuckten stumm, als würden sie laut lesen. Vielleicht beteten sie auch schon …
»Falls ich aber doch nicht kommen könnte«, stand weiter in dem Brief, »sollt ihr wenigstens ein paar Zeilen von mir haben und wissen, daß ich am 14. Juni bei Euch sein werde, wenn auch nur in meinen Gedanken, aber ich werde Euch so nahe sein, wie nie zuvor. Dir, liebe Mutter, möchte ich heute einmal ganz besonders schreiben, was sich so blödsinnig schwer sagen läßt: wir wissen alle, was Ihr, Du, und natürlich auch Vater, für uns getan habt. Und später einmal, wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir zusammenstehen und es Euch vergelten, so gut wir können …«
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Sie trieben hin und her, als könnten sie ertrinken. Manche schaukelten seitwärts und einige standen sogar köpf. Aber Frau Maria Kleebach las weiter durch den dünnen Tränenflor hindurch.
»Und so danke ich Euch und wünsche Euch alles Gute und wollte, ich könnte mehr tun, als dir bloß einen kümmerlichen Fliederstrauß schicken, der Dich an mich erinnern soll. Herzliche Grüße und Küsse. Euer Gerd.«
So kurz bloß? dachte Mutter Kleebach und wollte von vorne beginnen, bis sie den Nachsatz sah: »PS: Ihr braucht mir nichts zu schicken. Wenn ich in Paris bin, besorge ich Mutti ein tolles Parfüm und Marion reinseidene Strümpfe.«
Sie sah nicht auf, als sie den Brief vorsichtig wieder in den Umschlag steckte. Nebenan plärrte ein Lautsprecher: »… Und der Führer ist bei seinen Soldaten … in vorderster Linie … und er kennt ihre Sorgen und Nöte … spürt alles … am eigenen Leib …«
Mit dünnen, schleppenden Schritten ging Mutter Kleebach auf die Blumen zu, und ihre Schultern hingen dabei leicht durch, denn das Mutterkreuz an ihrem Hals zog plötzlich wie ein Mühlstein nach unten. Sie schob Gerds letzten Gruß unter die Blumen, wie man etwas auf einen Opferaltar legt – und dann weinte sie endlich, denn sie hatte voll und schwer erfaßt, daß ihr Gerd nie mehr weißen Flieder schenken konnte …
Arthur Kleebach hielt sie noch immer fest, und jetzt gelang es ihm, sie sanft aus dem Raum zu ziehen. Während er sie stützte, und während er mit ihr die letzte Verzweiflung teilte, gelobte er sich heiß und sinnlos, daß sie nie wieder eine solche Nachricht erhalten sollte, nie wieder …
Paris gefallen – Frankreich vor dem militärischen Untergang; in wilder Auflösung waren die demoralisierten Poilus nach Süden und Südwesten zurückgeflutet, wurden von den deutschen Verfolgern schließlich gegen die eigene nördliche Verteidigungsfront abgedrängt – und damit war für Hitler der Weg nach Paris frei geworden.
Seit dem 14. Juni 1940 vormittags neun Uhr hallte der harte Marschtritt feldgrauer Kolonnen über die Champs Elysées.
Am Sieg im Westen war nicht mehr zu rütteln. Was die deutsche Armee im ersten Weltkrieg in vier Jahren nicht schaffen konnte, erreichte sie im zweiten in knapp sechs Wochen.
Freilich, bei Arras, vor vierundzwanzig Tagen, wo der Gefreite Gerd Kleebach gefallen war, hatte es plötzlich ganz anders ausgesehen. Ein paar Stunden lang tobte die Schlacht völlig offen, dann erkämpften sich die Alliierten zum erstenmal ein fühlbares Übergewicht. Die 7. Panzerdivision des Generals Rommel sollte südlich und westlich an der Stadt Arras vorbeistoßen, die noch von starken britischen und französischen Kräften gehalten wurde, und dann nach Norden einschwenken. Plötzlich riß die Führung ab, der Angriff kam ins Stocken, und auf einmal stand Rommels rechter Flügel offen wie ein Scheunentor, durch das Hunderte von britischen Panzern rollten, wie sie bisher kein deutscher Landser gesehen hatte. Riesige, überschwere Kästen, an deren Panzerplatten die deutschen Geschosse nutzlos zerplatzten wie Seifenblasen.
Der alliierte Einbruch war geschafft, und die Panzerverbände rollten weiter, rollten auf Wailly, wo sie auf ein Regiment der Waffen-SS stießen, rollten auch östlich von Arras vorwärts und fuhren bei Hanin-Broiry mitten in den deutschen Aufmarsch hinein. Der deutsche Sieg schien von ihren Raupen zermalmt
Weitere Kostenlose Bücher