Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12
erwartet die verdammenswerte Neugier
erneut auf den Plan und forderte ihren Tribut. Sie machte nicht einmal vor der
Totenruhe halt! Natürlich wollte ich nun doch noch das große Geheimnis lüften, für
das ich mein kostbares Blut gegeben hatte, obwohl ich noch vor ein paar Minuten
gegenteiliger Meinung gewesen war.
Ich zog die untere Schublade heraus, doch anstatt einer
Schatzkarte oder eines Satzes Totenschädel oder sonst etwas Spektakulärem, das
Auskunft über das vergangene Verbrechen hätte geben können, sprang mir etwas
völlig Harmloses ins Auge: eine gerahmte Schwarzweißfotografie hinter
zersprungenem Glas, die im Lauf der Zeit und durch Stockflecken schon ziemlich
braun und schimmelig geworden war. Es handelte sich dabei um einen
Zeitungsausschnitt, um eines jener Sammelstücke, welches dem eigenen Ego
schmeichelt, wenn man selbst darauf abgebildet ist. Darauf blickten zwei
Gestalten den Betrachter geradewegs an. Eine von ihnen war ein älterer Herr,
der an einem mächtigen Schreibtisch saß und galant lächelte. Allerdings hatte
man keinen abgehalfterten Greis vor sich, sondern eine recht beeindruckende und
vitale Persönlichkeit. Das auffälligste an dem Mann waren seine schulterlangen,
silbrig ergrauten Haare, welche das von scharfen Falten überzogene und von
einer imposanten Habichtnase und stechenden Augen gekrönte Gesicht umrahmten.
Er besaß einen dunklen Teint, einen breiten, wulstigen Mund und die weise Aura
eines erleuchteten Gurus.
Der Alte hatte seine linke Hand auf einen alten Bekannten
gelegt. Auf dem Schreibtisch saß Eloi in vollem Glanz und starrte aus seinen
strahlenden Augen ebenfalls frohgemut in die Kamera. Der attraktive Siamese
schien das verwöhnte Haustierchen von dem Kerl gewesen zu sein. Sein Sohn, der
nun nach siebzehn Jahren wie ein grausames Denkmal sinnloser Gewalt neben mir
auf dem Kerzenständer aufgepfählt war, glich ihm bis aufs Haar. Ein kleiner
Holzglobus in fahlen Grautönen, der die rudimentär kartographierte Welt vor
vielleicht fünfhundert Jahren darstellte, winzige Artefakte vornehmlich
afrikanischer Herkunft, ein funkelnder Krummdolch auf einem Holzständer, eine
Jugendstil-Tischlampe mit Schirm aus Tierhaut und weitere Gegenstände, die
ihren Benutzer als den akademischen Kreisen zugehörig kennzeichneten, standen
auf der Schreibtischplatte.
Die Bildunterschrift bestätigte meine Vermutung, daß es
sich bei dem Mann auf dem Foto um den ehemaligen Hausherrn der Villa handelte.
Höchstwahrscheinlich hatte das Bild jahrelang an irgendeiner Wand geprangt, bis
Morlock es entdeckt, von der Wand gerissen und hier in der Schublade versteckt
hatte. Wie auch immer, die Bildunterschrift jedenfalls klärte einiges auf und
gebar doch wieder völlig neue Geheimnisse:
Professor Eduard von Refizul, Direktor der psychiatrischen
Privatklinik MORGENROT, die einstmals ein Kloster gewesen war. Bei dem in
Fachkreisen hochgeschätzten Wissenschaftler sind Tiere in der Behandlung
willkommen. Das Pilotprojekt der sogenannten tiergestützten Therapie soll eine
beruhigende und sogar heilende Wirkung besitzen, vor allem die Kommunikation
der Patienten mit ihrer Umwelt fördern. Hier mit seinem Liebling Eloi, der bei
besonders schwierigen Fällen eingesetzt wird.
Von wegen kannibalischer Ex-Sträfling! Aber warum hatte
ein derart hoch angesehener Psychiater in einem Abbruchhaus gewohnt? Fragen
über Fragen ... Eine Zeile weiter stand die Adresse der Anstalt, die meine
Ohren leise zum Klingen brachte. Soweit ich es vom Hörensagen mitbekommen
hatte, befand sich das ehemalige Kloster auf einer Insel inmitten eines kleinen
Sees ganz in der Nähe. Nun ja, so nah vielleicht auch wieder nicht, denn wenn
ich mich nicht irrte, war es von hier mindestens einen Kilometer entfernt.
Meine blutenden Wunden signalisierten mir, daß es keine gute Idee wäre, jetzt
auch noch dort hinzulatschen. Und wahrscheinlich mußte ich eh davon ausgehen,
daß diese sonderbare Klinik nach so langer Zeit überhaupt nicht mehr
existierte. Sicher war es viel vernünftiger, erst nach Hause zurückzukehren, sich
behandeln zu lassen, Paps' Geschichte zu Ende zu hören und sich dann in aller
Ruhe ein paar Gedanken über die weitere Vorgehensweise zu machen.
Doch Nein! schrie die Diktatorin namens Neugier in
meinem Schädel und Beiß gefälligst die Zähne zusammen! Draußen dämmerte
es bereits, was nicht hieß, daß mich vor der Tür ein atemberaubender
Sonnenaufgang erwartete. Es schneite immer noch so
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