Felidae 2 - Francis: Ein Felidae-Roman
Haufen Verrückter, die sich in Gewaltexzessen ergingen, es dabei hin und wieder mal arg übertrieben und einen der Ihrigen über die Klinge springen ließen. Denn nüchtern betrachtet, hatte die Vorstellung, daß der kleine Sherlock in der Wildnis zwei Ungeheuer aufspürte, etwas recht Lächerliches an sich - aber gleichzeitig etwas äußerst Werbewirksames für die Freunde der Kloake.
Trotz dieser Vermutungen schob ich alle Zweifel einstweilen beiseite, weil die um mich herrschende Stimmung jedes klare Denken unmöglich machte. Jawohl, auch ich war jetzt ergriffen von der sakralen Atmosphäre und dem Gesang des Leidens, welcher ein musikalisches Äquivalent für das Weinen war. Und auch ich stellte mich schließlich auf die Hinterbeine, streckte mich empor, tretelte mit den Vorderpfoten euphorisch in der Luft und schrie mit tränenerstickter Stimme: »Aaaaaiiiiihhhhh! Aaaaaiiiiihhhhh! Aaaaaiiiiihhhhh! ...«
Nachdem der befremdliche Akt, der zirka zehn Minuten gedauert hatte, mit dem Nahen des ersten Bauarbeiters abrupt beendet wurde, zog sich die Gruppe in die Kanalisation zurück und fiel dort zu meiner Überraschung auseinander. Jeder schwirrte in eine andere Himmelsrichtung, geradeso wie die Teilnehmer eines Sonntagsgottesdienstes nach der Predigt. Erst als Safran und Niger mich zu der in der Luke versteckten Ratte zurücklotsten, begriff ich, daß nun endlich die Frühstückszeit angebrochen war und ein jeder sich auf die Suche nach etwas Eßbarem gemacht hatte. Wir drei vertilgten das üppige Mahl genüßlich schmatzend, obgleich ich offen gestehen muß, daß Rattenfleisch für unseren Gaumen wirklich nicht als lukullische Krönung bezeichnet werden kann. Sobald der erste Heißhunger gestillt war, ertappte ich mich dabei, wie ich aufs neue von Sehnsuchtswellen nach Gustav und seiner beinahe zärtlich zu nennenden Art, Futterdosen zu öffnen, durchflutet wurde. Ach, das Rattern des Öffners klang schon in meinen Ohren wie ein vertrautes Kinderlied. Seltsam, aber ausgerechnet solche geschmacksbehinderten Lebewesen wie die Menschen verstehen von der Herstellung unserer Nahrung am meisten. Weshalb sie sich selbst aber ohne Murren mit den minderwertigsten Schnellgerichten buchstäblich abspeisen lassen, bleibt ein Rätsel. Zumindest bot mir das Dinner die Gelegenheit, meinen kulinarischen Erfahrungshorizont zu erweitern. Danach dirigierten mich meine blinden Auftraggeber durch ein kompliziertes Röhrensystem mit einer verwirrenden Anzahl von Abzweigungen. In dieser Hydra war ich trotz meiner intakten Augen wie sie in vollendeter Finsternis gefangen, da nicht einmal der leiseste Lichtstrahl eine Chance hatte, sich hineinzustehlen. Unterwegs kam ich auch endlich dazu, von den Umständen zu erzählen, die mich in die Unterwelt befördert hatten. Heuchler, der ich bin, beteuerte ich dabei natürlich, daß eine Rückkehr zu Überfluß und Dosenöffner ausgeschlossen sei. Schließlich endete die Reise vor einem Rohrloch, durch das wie eine Offenbarung grelles Sonnenlicht fiel. Hier hielten Safran und Niger an und machten nachdenkliche Gesichter.
»Es ist ungewiß, ob wir uns je wiedersehen, lieber Francis«, sagte der Herrscher der Dränage, und war dabei von unverblümter Traurigkeit erfaßt. Dagegen hielt seine sehnige Adjutantin den Kopf von mir abgewandt, damit ihre Gefühlsregungen verborgen blieben. Vielleicht wurde auch sie von einer gewissen Abschiedswehmut heimgesucht, aber zugleich schien sie mir die Sache mit Rhodos nicht verzeihen zu wollen.
»Doch manchmal genügt eine einzige Begegnung, um ein ganzes Leben zu verändern. Wir verlangen von dir nicht, dich zu ändern. Wir möchten nur, daß du dich weiter an uns erinnerst, wenn wir aus deinem Gesichtsfeld verschwunden sind. Denk immer daran, daß hier unten nicht allein der Ausfluß dieser ewig schwärenden Welt waltet, sondern auch eine unsichtbare Schar Barmherziger, die todgeweihten Brüdern und Schwestern ein neues Leben schenkt. Du hast da draußen eine verzwickte Aufgabe zu lösen, für die dich niemand entlohnen kann. Aber nichts Geringeres als der Fortbestand der Artgenossen auf dem Lande hängt von der Bewältigung dieser Aufgabe ab. Denn wenn der verrückte Hugo und der bestialische Hund ihr Schlachterhandwerk weiter betreiben, wird es zu weit schlimmeren Folgen kommen als bei einer Seuche. Auch wenn wir auf Außenstehende wie halbtote Spukgestalten wirken mögen, so ist uns das Leben doch das Heiligste. Für Junge, Unversehrte und Sorglose ist
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