Felidae
haben? Oder war oben gar ein grausiger Krieg ausgebrochen? Es war mir einerlei, denn ich hatte eine Heidenangst. Aber plötzlich vernahm ich die Stimme des Herrn, unseres seligen Propheten, der leise zu mir sprach.«
»Was? Du hörtest eine Stimme, die aus dem Schacht kam?«
»Nein, nicht irgendeine Stimme - seine Stimme!«
»Und was sagte seine Stimme?«
»Sie sagte, da ß ich auserkoren sei, den Dienst des Totenwächters anzutreten. Ich aber sprach in das Loch hinein: ›Herr, du bist so allmächtig, und ich bin nur ein elender Narr in Anbetracht deiner unerme ß lichen Weisheit. Ich weiß, deine Pläne sind unergründlich, doch bitte sage mir, woher kommt diese tote Schwester und weshalb ist sie so blutbesudelt?‹ Da sprach der Herr, und seine Stimme war diesmal geladen mit Zorn und Gift: ›Verrichte du brav deinen Totenwächterdienst und kümmere dich nicht um himmlische Ursachen! Denn wenn dein kleiner Kopf zuviel grübelt, wird er so groß wie ein Kürbis anschwellen und dann auseinanderbrechen! Und wagst du jemals, zu der Tagwelt aufzusteigen, werde ich dich verbrennen!‹«
»Also gehorchtest du und nahmst die Leichen, die in steter Regelmäßigkeit runtergeschmissen wurden, in Empfang.«
»Ja, so war es. Ich machte es den Toten in meinem Tempel gemütlich, soweit es in meinen Kräften stand. Ich schmückte sie mit Blumen, die in den Kanälen wachsen, und betete um ihr Seelenheil. Der Herr lobte mich, da ß ich so brav seinem Willen gehorchte, und segnete mich des öfteren. Immer wieder sprach er weise mit mir und schickte auch zuweilen eine fette Ratte herunter. Doch nun ist auf einmal alles anders geworden.«
»So?«
Ich ahnte etwas.
»Weder schickt der Herr Tote ins Totenreich noch spricht er mit mir in letzter Zeit. Er hat mich vergessen.«
»Und aufgrund dieses Mangels warst du heute Nacht da oben. Du wolltest persönlich Ausschau nach Toten halten und falls du welche finden würdest, in den Tempel bringen, was dir ja auch beinahe gelungen wäre.«
»Wohl wahr, ich habe arg gesündigt, denn das heilige Verbot lautet ja, auf keinen Fall zur Tagwelt hinaufzusteigen. Doch wenn der Totenwächter keine Toten mehr willkommen heißen kann, wozu ist er dann noch nütze? Ach, der Herr hat mich verlassen, er hat sich abgewandt von seinem treuen Diener.«
Ja, aber warum? war ich in Versuchung zu fragen, unterließ es aber im letzten Moment, weil ich seine Antwort bereits zu kennen glaubte. Bestimmt würde er als Grund angeben, da ß er zu wenig gebetet oder Bu ß e getan oder seinen Auftrag unvollkommen verrichtet habe und was sein archaisches Weltbild sonst noch an Naivitäten hervorbringen konnte.
Auf einen Schlag hatte sich das Grauen potenziert und seine Dimensionen, um bei der der Situation angemessenen Ausdrucksweise zu bleiben, bis in die Hölle hinab erweitert. Es waren also keine sieben Opfer zu beklagen, sondern Hunderte! Demnach mu ß ten die schrecklichen Aktivitäten des Mörders viele, viele Jahre zurückreichen, mit größter Wahrscheinlichkeit sogar bis zur Schließung des Labors.
Erneut begann der verrückte Professor in meinem Kopf zu quasseln und erinnerte mich an seine unterschiedlichen Theorien bezüglich des Mordmotivs. Doch ich gebot ihm Einhalt. Während Jesaja weiterhin damit beschäftigt war, seine himmlische Bestimmung mit biblischer Sprachgewalt zu beschreiben und zu rechtfertigen, vergegenwärtigte ich mir im Geiste alle wichtigen Daten, die ich bis jetzt zusammengetragen hatte:
Erstens: Der alte Joker war vermutlich der einzige im Revier, der sich an den Wahnsinn von 1980 in allen Einzelheiten erinnern konnte und um seine gruseligen Folgen wu ß te. Stark anzunehmen, da ß er selbst kein Insasse gewesen war, sondern ein Außenstehender, der jedoch einen umfassenden Einblick in die Vorfälle erhalten hatte. Da er sein Leben bis dahin in den Katakomben verbracht hatte und es sich infolgedessen bei ihm um einen Streuner handelte, war er vielleicht während eines Spaziergangs durch Hilferufe seiner Artgenossen auf das Laboratorium aufmerksam geworden, hatte den Horror darin durch eines der Fenster erblickt und von da an die gesamte traurige Entwicklung minutiös mitverfolgt. Er mu ß te mit ansehen, da ß wenige erwachsene Tiere, wahrscheinlich überhaupt keine, das Grauen überlebten und nur die Jungen, wenn auch grotesk verstümmelt, dem Tode knapp entrinnen konnten. Dunkler Punkt bei der Angelegenheit: Was passierte in den letzten Tagen des Labors, da ß es zu einer
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