Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
trug sie ein Teetablett mit einem einzigen Becher und sah daher weniger aus wie Anne Oakley, sondern eher wie eine von Toulouse Lautrecs fleißigen Kellnerinnen. In der plötzlichen Stille drehte sich Matt zu mir um, und in seinen Augen lag ein Funkeln, das man beinahe bedrohlich hätte nennen können, wenn mein Bruder nicht über solch niederen Emotionen gestanden hätte.
»Keinen Unterschied macht der Teufel, Felix«, meinte er in einem Tonfall milden, traurigen Tadels. »So geht man nur vor, wenn man kein Maß hat, nach dem man sich orientieren kann. Aber du hast so etwas. Wenn du dich schon an sonst nichts erinnerst, dann denk wenigstens an die liebe Katie, möge sie in Frieden ruhen, und an deinen armen Freund Rafi. Denk daran, was du ihm angetan hast! Du siehst, wie riskant es ist, wenn gute Absichten …«
Der Inhalt des Bechers traf Matt mitten ins Gesicht. Dem Geruch nach war es grüner Gunpowder-Tee, gemischt mit starken Kräutern. Er war eher lauwarm als heiß, und er beschädigte nichts. Dafür aber das Tablett. Es krachte mit der Kante gegen seine Nase und ließ ihn zurücktaumeln. Er starrte Pen in grenzenloser Überraschung an. Sie stand vor ihm, hielt das Tablett in beiden Händen und war augenscheinlich bereit, weitere Vergeltung zu üben, sobald er den Mund wieder öffnete.
Zwei dünne Blutrinnsale rannen aus Matts Nasenlöchern und sammelten sich auf seiner Oberlippe. Während er Pen weiter anstarrte, tastete er den Nasenrücken vorsichtig mit einer zitternden Hand ab. Pen ließ das Tablett sinken und senkte plötzlich verlegen den Kopf, während ihre rasende Wut abflaute. »Tut mir leid, Fix«, brummte sie. »Ich brühe gleich frischen auf.« Sie verließ das Zimmer, und einen Augenblick später hörte ich ihre schweren Schritte auf der Treppe.
Ich stellte fest, dass Pens Akt kathartischer Gewalt auch meine eigene Wut auf Matt hatte erlöschen lassen. »Du solltest nicht von Rafi sprechen, wenn sie in der Nähe ist«, erklärte ich. »Sie war seine …« Ich zögerte. Es war schwer zu beschreiben, wie Rafi und Pen einander in ihrem komplizierten Irgendwann-oder-nie-Paarungstanz umkreist hatten. »Sie hat ihn geliebt«, sagte ich. »Sie tut es immer noch.«
»Weiß sie, was du mit ihm gemacht hast?«, schnappte Matt und hielt sich die Nase. Sie begann schon anzuschwellen. Die Haut auf dem Nasenrücken war unverletzt, färbte sich jedoch dunkelrot.
»Ziemlich genau«, entgegnete ich. »Ja.«
Matt bedachte mich mit einem letzten ärgerlichen Blick, dann folgte er Pen.
Ich zog mich an, was sich als ziemlich komplizierte Operation erwies, da jede Bewegung eine andere Muskelgruppe veranlasste, sich arbeitsunfähig zu melden. Traurig trug ich die Überreste meines mit zahlreichen Taschen versehenen Paletots zum Papierkorb und schlüpfte in einen altmodischen Trenchcoat, der mir eine total irreführende Aura von Retroschick verlieh.
Ich fühlte mich krank und wund, aber auch ruhelos und unbehaglich. Ich konnte die Sache nicht auf sich belassen, aber ich konnte auch nichts Sinnvolles ausrichten. Einen Sukkubus zu wecken war weder einfach noch sicher. Gut, es stimmte schon, dass sie nicht hatte gerufen werden müssen und nun auch nicht aus irgendeinem speziellen Grund gebunden werden musste: Es konnte ein reiner Zufall gewesen sein. Ich verfolgte den Gedanken probeweise. Das Ding, das sich Juliet nannte, hatte mich willkürlich aus dem träge dahinfließenden Strom alleinstehender Männer herausgepickt, die durch den zur Neige gehenden Abend schlenderten. Sie hatte keine Ahnung, wer ich war, und es war ihr einerlei.
Ja, es war denkbar. Natürlich war es denkbar. Sie gehörte zu einer räuberischen Art, und obgleich sie woanders lebte, wusste man, dass die Erde ihr Jagdgebiet war. Aber Asmodeus hatte mich gewarnt und Pen auch, indem er ihr genug verraten hatte, sodass sie sich schon im Vorhinein bewaffnen konnte. »Du wirst diesen Fall übernehmen, und es wird dich töten.« Es sei denn, in den Kulissen lauerten noch schlimmere Schrecknisse. Er musste von Juliet gesprochen haben – und dieser Angriff stand in irgendeiner Verbindung zum Archivgeist.
Ich fand Pen wie erwartet im Keller. Sie fütterte Arthur und Edgar, als ich anklopfte und eintrat. Die Vögel fraßen Leber, die Pen tiefgefroren in Industriegebinden kaufte und stückweise auftaute. Ihre Hände waren rot von wässrigem Blut. Sie sah sich um und wies mit einem Nicken auf einen frischen Becher Tee ohne Milch, der dampfend auf dem
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